Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
gerade?«
»Na ja, ich …«
»Vergiss es.« Joanie stellte einen mit Alufolie bedeckten Take-away-Behälter auf die Küchentheke. »So, und jetzt iss.« Sie gestikulierte ungeduldig, als Reece zögerte. »Sie ist noch warm. Ich mach gerade Pause.«
Mit diesen Worten ging sie zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Dann zog sie ein Feuerzeug und eine Schachtel Marlboro Lights hervor. »Du willst mir hier doch hoffentlich nicht das Rauchen verbieten?«
»Nein.« Da sie nichts Geeigneteres besaß, trug Reece die Untertasse hinüber, die nun als Aschenbecher herhalten musste. »Und wie läuft’s heute?«
»Nicht schlecht. Die Suppe hat sich größter Beliebtheit erfreut. Du kannst morgen wieder eine machen, falls du noch ein Rezept auf Lager hast.«
»Klar, kein Problem.«
»Setz dich und iss.«
»Du musst nicht am Fenster stehen bleiben.«
»Daran bin ich gewöhnt.« Stattdessen setzte sich Joanie mit einer Pobacke auf die Fensterbank.
»Es riecht gut hier.«
»Ich habe gerade gebadet. Tropical Mango .«
»Lecker.« Joanie nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Erwartest du noch Besuch?«
»Was? Nein, heute Abend nicht.«
»Lo ist unten.« Joanie aschte geistesabwesend aus dem Fenster. »Eigentlich hatte er vor, dir die Suppe zu bringen. Ich glaube nicht, um dich anzumachen, zumal er Linda-Gail mitnehmen wollte. Trotzdem, wenn man ihm den kleinen Finger gibt …«
»Das ist aber nett von ihm.«
»Er macht sich Sorgen um dich, glaubt, du bist völlig verängstigt.«
»Daran bin ich gewöhnt«, sagte Reece mit einem schiefen Lächeln, während sie sich hinsetzte, um ihre Suppe zu essen. »Aber ich komm schon zurecht.«
»Er ist nicht der Einzige, der sich Sorgen macht. Die Sache hat sich natürlich längst herumgesprochen. Das, was du gestern auf dem Wanderweg beobachtet hast.«
»Was ich beobachtet habe oder was ich glaube, beobachtet zu haben?«
»Nun, das weißt nur du.«
»Ich habe es beobachtet.«
»Also gut. Linda-Gail lässt dir ausrichten, dass sie gern hochkommt und bei dir übernachtet, wenn du nicht allein sein willst. Du kannst aber auch bei ihr schlafen.«
Reece blieb der Löffel in der Luft stehen. »Ehrlich?«
»Nein, das hab ich mir bloß ausgedacht, damit du mich blöd anstarren kannst.«
»Wie lieb von ihr. Aber es geht mir gut.«
»Zumindest besser als vorhin.« Joanie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fensterkreuz und aschte erneut. »Als deine Chefin und Vermieterin habe ich heute die Aufgabe, nach dir zu sehen und dir von Mac, Carl, Doc, Bebe, Pete, Beck und so weiter alles Gute zu sagen. Ich müsste lügen, wenn nicht heute so mancher nur deshalb vorbeigekommen ist, um einen Blick auf dich werfen zu können oder mehr aus mir herauszubekommen. Aber die meisten waren aufrichtig um dich besorgt. Und das solltest du wissen, finde ich.«
»Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass du nach mir gesehen hast und mir ihre guten Wünsche ausgerichtet hast. Aber Joanie, der Sheriff kann nicht den geringsten Beweis dafür finden.«
»Manche Sachen brauchen eben Zeit. Rick wird weiter die Augen offen halten.«
»Ja, das glaube ich auch. Aber er ist nicht wirklich davon überzeugt, dass ich gesehen habe, was ich gesehen habe. Warum auch? Warum sollte mir irgendjemand glauben? Und wer mir jetzt noch glaubt, wird seine Meinung sehr bald ändern, wenn sich erst mal herumgesprochen hat, was damals in Boston passiert ist. Und das wird sich herumsprechen. Und dann …« Ihr versagte die Stimme, und sie zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Wahrscheinlich hat es sich längst herumgesprochen.«
»Irgendjemand hat so was erwähnt. Und so wurde in der Tat darüber geredet, was damals vorgefallen ist, und wie schlimm du verletzt warst.«
»Das musste ja passieren.« Sie versuchte es abzuschütteln. »Jetzt wird die Gerüchteküche erst recht brodeln. Und dann wird es heißen, ach, die Ärmste, sie hat so viel durchgemacht, dass sie einfach nicht darüber hinwegkommt. Und sich Sachen einbildet.«
»Ja, ja, versink nur in Selbstmitleid.« Mit ein paar schnellen Bewegungen drückte Joanie routiniert ihre Zigarette aus. »Bitte sag mir Bescheid, wenn es das nächste Mal wieder so weit ist.«
»Mensch, bist du gemein.« Reece löffelte ihre Suppe. »Kannst du mir sagen, warum mir ausgerechnet die beiden Menschen am meisten helfen, die mir so gar kein Mitleid entgegenbringen?«
»Mitleid wirst du in Boston genug bekommen haben, da brauchst du mich nicht auch noch
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