Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
Tränen, die Fassungslosigkeit. Der Reporter verwendete Worte wie Blutbad, Gemetzel, Brutalität.
Weitere Artikel gaben den Stand der Ermittlungen wieder, die so gut wie keine Fortschritte machten. Die Frustration der Polizeibeamten war deutlich herauszulesen.
Dann wurde über die Begräbnisse und Gedenkgottesdienste für die Mordopfer berichtet. Reeces Zustand sei nicht mehr kritisch, sondern ernst. Sie stehe unter Polizeischutz.
Anschließend verlief die Geschichte langsam im Sand, wanderte von der Titelseite auf Seite drei und noch weiter nach hinten. Als Reece aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war das gerade noch eine Meldung wert. Es gab keinerlei Interview mit ihr, kein Foto.
So ist das nun mal, dachte Brody. Nachrichten sind nur so lange aktuell, bis sie durch etwas anderes verdrängt werden. Die Geschichte des »Maneo-Massakers«, wie es von den Zeitungen genannt wurde, war nach nicht einmal drei Wochen durch.
Die Toten waren beerdigt, die Mörder flüchtig, und die einzige Überlebende konnte zusehen, wie sie die Scherben ihres früheren Lebens wieder zusammensetzte.
Während Brody seine Pizza aß und über sie recherchierte, ließ Reece gerade heißes Wasser in ihre kleine Badewanne einlaufen und gab einen großzügigen Spritzer von dem Drogeriemarktschaumbad hinzu. Sie hatte das Aspirin genommen und sich gezwungen ein paar Cracker mit Käse zu essen und dazu noch ein paar Trauben, wegen der Vitamine.
Jetzt würde sie sich gemütlich in die Wanne legen, ihren Wein trinken und mit Brodys Buch anfangen. Sie wollte die Welt da draußen völlig aus ihren Gedanken verbannen, wenigstens für die nächste Stunde. Sie überlegte, ob sie sich im Bad einschließen sollte oder nicht. Sie hätte sich lieber eingeschlossen, aber der Raum war so klein, dass sie das Gefühl des Eingesperrtseins nicht ertragen hätte.
Sie hatte bereits mehrfach versucht, sich im Bad einzuschließen, was regelmäßig dazu geführt hatte, dass sie tropfend und keuchend aus der Wanne gesprungen war, um die Tür wieder aufzureißen.
Die Wohnungstür war abgeschlossen, beruhigte sie sich, außerdem hatte sie eine Stuhllehne unter die Klinke gerückt. Sie war vollkommen sicher. Aber nachdem sie sich in die Wanne hatte gleiten lassen, musste sie sich zweimal aufsetzen und sich verrenken, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Nur für den Fall. Um auch ja nichts zu überhören.
Ärgerlich über sich selbst nahm sie langsam zwei große Schlucke Wein.
»Jetzt hör endlich auf damit. Entspann dich. Du hast das früher geliebt. Du hast es geliebt, mit einem Glas Wein und einem Buch in der Wanne zu sitzen. Es wird höchste Zeit, dass du damit aufhörst, dich in drei Minuten abzuschrubben und dann aus der Dusche zu springen, als sei Norman Bates höchstpersönlich hinter dir her.«
»Und jetzt denk endlich mal an etwas anderes!«
Sie schloss die Augen und nippte erneut an ihrem Wein. Dann schlug sie das Buch auf.
Der erste Absatz lautete:
Die Leute sagten, Jack Brewster hätte sich schon seit Jahren sein eigenes Grab geschaufelt. Aber als er die Schaufel mühsam in die hart gefrorene Wintererde bohrte, fand er es doch mehr als ärgerlich, dass sich dieses Sprichwort tatsächlich bewahrheiten sollte.
Sie musste grinsen und hoffte nur, dass Jack nicht so bald unter der Erde liegen würde.
Sie las ungefähr eine Viertelstunde, bevor sie nervös wurde und wieder einen Blick ins Wohnzimmer werfen musste. Das war bereits ein neuer Rekord. Stolz harrte Reece noch weitere zehn Minuten aus, bevor sie eine derartige Gänsehaut bekam, dass sie wirklich aus der Wanne musste.
Das nächste Mal, schwor sie sich, während sie den Stöpsel zog, würde sie versuchen, es noch etwas länger auszuhalten.
Sie stellte erleichtert fest, dass ihr das Buch gefiel, und legte es zur Seite, damit sie sich mit der zum Schaumbad passenden Bodylotion eincremen konnte. Sie würde es mit ins Bett nehmen, jawohl. Sie würde Brodys Jack Brewster dazu benutzen, alle dunklen Gedanken zu verdrängen.
Sie würde kein Tagebuch schreiben, nicht heute.
Vielleicht hatte sie sich über Sheriff Mardson geärgert, nachdem sie sein Büro verlassen hatte. Aber jetzt hatte sie sich wieder beruhigt und musste zugeben, dass er alles tat, was in seiner Macht stand.
Egal, ob er ihr glaubte oder nicht, er hatte sie nicht herablassend behandelt.
Und so bemühte sie sich, wenigstens einen Rat von ihm anzunehmen. Sie würde die Sache vorerst vergessen – wenn auch nur für
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