Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
dazu.«
»Was du nicht sagst. Bevor du raufgekommen bist, war ich schon drauf und dran abzureisen. Und jetzt sitze ich hier, esse Suppe – die übrigens mit frischen Kräutern deutlich besser schmecken würde – und unterhalte mich mit dir. Und plötzlich weiß ich, dass ich nirgendwohin fahren werde. Und das tut gut. Obwohl ich sofort alle Türen und Fenster kontrollieren werde, wenn du wieder weg bist, und nachhören werde, ob das Telefon funktioniert.«
»Und den Stuhl wirst du auch wieder unter die Türklinke schieben?«
»Dir entgeht aber auch gar nichts.«
»Nicht sehr viel.« Joanie trug den improvisierten Aschenbecher zur Spüle. »Ich hab schließlich sechzig Jahre auf dem Buckel, da …«
»Du bist sechzig? Quatsch!«
Angesichts von Reeces ungläubigem Staunen konnte sich Joanie ein Strahlen nicht verkneifen. Sie zuckte die Achseln. »Nächsten Januar werde ich sechzig, also stell ich mich schon mal drauf ein. Dann ist es nicht mehr so ein Schock. Aber jetzt hab ich den Faden verloren.«
»Ich hätte dich mindestens zehn Jahre jünger geschätzt.«
Joanie warf ihr einen langen, kühlen Blick zu, aber ihre Lippen verzogen sich schon wieder zu einem Lächeln. »Versuchst du gerade, eine vorzeitige Gehaltserhöhung durchzudrücken?«
»Och, wenn ich eine kriegen kann …«
»Was ich eigentlich sagen wollte: Ich weiß, wen ich vor mir habe. Du bist in Ordnung, du stehst das durch. Du hast schon Schlimmeres durchgestanden.«
»Hab ich nicht.«
»Hör auf, dich klein zu reden!«, schimpfte Joanie. »Ich hab schließlich Augen im Kopf. Es gibt hier bestimmt die ein oder andere Klatschbase, aber auch jede Menge anständige Leute, ansonsten wäre ich schon lange nicht mehr hier. Schlimme Dinge passieren überall, und wer wüsste das besser als du. Die Leute hier kümmern sich umeinander. Wenn du Hilfe benötigst, brauchst du es bloß zu sagen.«
»Mach ich.«
»Jetzt muss ich wieder runter.« Joanie machte einen Schritt zurück und sah sich noch mal gründlich um. »Möchtest du einen Fernseher? Ich hab noch einen übrig, den ich dir überlassen könnte.«
Reece wollte schon Nein sagen und mach dir keine Mühe. Schon wieder so ein ungesunder Reflex, dachte sie. »Falls du mir wirklich einen leihen kannst, würde ich mich freuen.«
»Du kannst ihn gleich morgen mit hochnehmen.« In der Tür blieb Joanie noch einmal stehen und schnüffelte. »Es wird Regen geben. Ich erwarte dich pünktlich um sechs.«
Wieder allein, stand Reece auf, um das Fenster zuzumachen und die Tür abzuschließen, ließ sich aber bewusst Zeit damit. Wie jede normale Frau, beruhigte sie sich, vor dem Zubettgehen. Und wenn sie noch den Stuhl unter die Türklinke schob, tat das auch niemandem weh.
Kurz nach zwei Uhr früh wurde sie in der Tat von Regen geweckt. Sie war bei brennendem Licht über Brodys Buch eingeschlafen. Während der Regen aufs Dach prasselte und gegen die Fenster schlug, hörte man es in der Ferne leise donnern. Sie mochte dieses Geräusch, das Heulen des Windes, und fand es in ihrem kleinen Bett umso gemütlicher.
Sie kuschelte sich zusammen und strich sich die Haare aus dem Nacken. Sie gähnte und zog die Decke hoch bis unters Kinn. Und als sie sich gewohnheitsmäßig noch einmal im Zimmer umsah, erstarrte sie.
Die Wohnungstür stand auf. Nur einen Spalt.
Zitternd warf sie sich die Decke um und griff nach der Taschenlampe neben ihrem Bett, als wäre sie ein Knüppel. Sie musste aufstehen, ihre Beine durften jetzt nicht versagen. Ihr Atem ging pfeifend, als sie zitternd das Bett verließ und zur Tür rannte.
Sie knallte sie zu, schloss ab und drückte die Klinke herunter, um zu überprüfen, ob sie wirklich zu war. Ihr Puls raste immer noch, als sie zu den Fenstern eilte, kontrollierte, ob alle geschlossen waren, und einen prüfenden Blick auf die Straße warf.
Da draußen im Regen war niemand. Der See lag da wie eine schwarze Pfütze, die Straße glänzte und lag völlig verlassen da.
Sie versuchte sich einzureden, sie habe die Tür aus Versehen nicht abgeschlossen oder bei ihrer letzten Kontrolle vor dem Zubettgehen aus Versehen wieder aufgeschlossen. Der Wind hatte sie einen Spalt aufgedrückt. Draußen stürmte es, und deshalb hatte die Zugluft …
Doch als sie vor der Tür auf alle viere ging, sah sie die kleinen Kratzer, die der Stuhl auf dem Holz verursacht hatte.
Der Wind konnte die Tür unmöglich so fest aufgedrückt und den Stuhl um Zentimeter verschoben haben.
Sie setzte sich
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