Verschollen
führte ihm nochmals vor Augen, wie knapp er selbst dem Tode entronnen war. Er setzte sich neben Tiana und legte ihr den Arm um die Schulter. Sie schmiegte sich an ihn, ein gutes Gefühl.
Nach einer Weile löste sie sich von ihm und rieb sich die Augen. »Fünf Paladjur sind tot«, berichtete sie mit dumpfer Stimme. »Die anderen kannte ich nicht besonders gut, es waren Gäste, die hier auf Nachricht von den Paladinen warteten.« Sie lächelte schwach. »Zum Glück haben wir Katmar retten können. Er war schwer verletzt und bewusstlos, als Keldra ihn fand. Ihre Heilzauber konnten ihn gerade noch vor dem Tod bewahren. Und dir«, sie strich ihm sanft über den Arm, »ist ja zum Glück auch nichts geschehen.«
Es war ein seltsamer Widerstreit der Gefühle, der sich in Tristan abspielte. Einerseits der Verlust eines, wenn auch nur vage, Bekannten, das leise Entsetzen, dass es auch ihn selbst beinahe getroffen hätte. Andererseits das enge Beisammensein mit Tiana, das schöne flaue Gefühl in der Magengegend, das Verlangen sie an sich zu drücken, der Geruch ihrer Haare …
Vinjala störte die traute Zweisamkeit. Sie räusperte sich leise, erst dann bemerkten die beiden, dass sie hinter die Scheune getreten war. »Die Zeremonie für die Toten beginnt gleich«, sagte sie und Tristan glaubte in ihrem Gesicht neben Trauer so etwas wie Missbilligung zu lesen.
»Ich muss mich noch umziehen«, sagte Tiana und stand auf. Sie ging gemeinsam mit ihrer Freundin, doch als sie um die Ecke waren, hörte Tristan Vinjala noch sagen. »Was tust du, Tiana? Du weißt doch, dass er …« Die weiteren Worte verstand Tristan nicht mehr.
Eine Weile blieb er verwirrt sitzen, rätselte, was Vinjala wohl gemeint haben könnte. Erst dann raffte er sich auf, um ebenfalls der Zeremonie beizuwohnen. Er sah eine Reihe von Leuten in den Ratssaal gehen und nahm daher an, dass sie dort stattfand.
Tatsächlich hatte man die Stühle von dem großen Tisch entfernt und die Toten dort aufgebahrt. Ihre Körper waren in weißes Leinen gewickelt, nur der Kopf war frei. Die Nachkommen der Paladine gingen in einer Schlange an den Toten vorbei, blieben bei jedem der Leichname kurz stehen und senkten den Kopf. Einige führten die flache Hand an die Stirn, dann vor den Mund und bliesen etwas Imaginäres von dort auf die Toten.
Tristan reihte sich ein, beließ es aber dabei, einfach nur bei jedem Gefallenen kurz stehen zu bleiben. Außer Voruk kannte er nur einen der Toten, eine junge Frau, der er einmal bei der Essensausgabe begegnet war. Die anderen drei waren Männer verschiedenen Alters, die Tristan nie gesehen hatte.
Die, die an den Toten vorbei defiliert waren, sammelten sich an einer der Seitenwände des Saals und warteten stumm. Am Schluss kamen die Angehörigen und es versetzte Tristan einen schmerzhaften Stich, als er eine ältere Frau klagend aufschreien hörte und ihm bewusst wurde, dass seine Mutter womöglich bald genauso an Svenjas Grab stehen könnte. Für einen Moment erschrak er, als er überlegte, wie viele Tage er nun schon hier war, dann fiel ihm wieder ein, dass die Zeit auf der Erde ja langsamer verging als in Nuareth.
Als Letzter trat Meister Johann in den Saal. Er ging direkt auf die andere Seite des Tisches, blickte kurz von einem Toten zum anderen, hob dann die Hände auf Schulterhöhe und blickte zur Decke. »Trauer und Ungewissheit erfüllen uns«, begann er mit fester Stimme. »Trauer um die Gefallenen, die vor uns aufgebahrt sind, doch auch um die, deren Tod wir betrauern müssen, ohne Abschied nehmen zu können. Auch die Paladine Shamila und Andrew sind tot.«
Es gab ein paar erschrockene Laute unter den anderen, Andrews Tod hatte sich offenbar noch nicht herumgesprochen.
»Vor uns liegen Neras, Enkel des Paladins Stephan …«, Johann nannte auch die drei anderen beim Namen, »… und Voruk, Urenkel des Paladins Louis, der sein Leben noch vor sich hatte und trotz seiner Jugend gestern so tapfer in die Schlacht von Nephara zog, wo sie alle ihr Leben gaben.« Erst jetzt ließ Johann die Hände sinken und blickte die Menge auf der anderen Seite des Raumes an. »Es war nicht umsonst. Ohne das Eingreifen unserer tapferen Paladjur wäre Nephara gestern gefallen, hunderte Unschuldiger wären umgekommen, der Fürst selbst hätte getötet und damit das Menschenreich von Nasgareth führerlos werden können.« Er machte eine Pause. »Doch es ist auch die Sorge um all die verschwundenen Paladine, die uns hier zusammengeführt hat, und
Weitere Kostenlose Bücher