Verschollen
wenngleich es die Trauer, die wir ob unserer Toten empfinden, nicht auslöschen kann, so lindert es vielleicht doch unseren Schmerz, dass wir nun, nach dem, was wir heute wissen, recht sicher sein können, dass die Paladine noch leben.« Erleichtertes Aufatmen unter den Versammelten. »Gefangen zwar, aber wohl am Leben. Und ich versichere euch, dass wir unser Möglichstes tun werden, sie zu befreien. Wir müssen uns jedoch im Klaren darüber sein, dass uns das weitere Opfer abverlangen wird, denn unser Feind hat gestern seine Macht gezeigt.
Mögen die Götter also den Gefallenen vor uns gnädig sein, möge Dulag sie im Reich der Toten aufnehmen und uns ein Sieg über unsere Feinde ohne allzu große Opfer vergönnt sein.«
Der Nachmittag verlief in gedrückter Stimmung. Keldra war beim Unterricht nicht richtig bei der Sache und Martin, der Ilgar vertrat, weil dieser am Krankenbett seines Bruders weilte, ließ sie nur zwei Runden um das Gelände laufen und entließ sie dann. Am schlimmsten aber war für Tristan, dass Tiana ihn plötzlich zu meiden schien. Im Unterricht blieb sie bei Vinjala, wenn es ums Üben ging, und nach dem Lauf verschwand sie wortlos im Haupthaus, ohne Tristan eine Gelegenheit zu geben, sie anzusprechen.
So trieb er sich planlos auf dem Gelände herum, sah nach den Nobos, die ihn mittlerweile erkannten und ihn schnatternd begrüßten, und kletterte am Spätnachmittag schließlich auf die Mauer, die das Gelände umgab, setzte sich dort und ließ die Beine baumeln. Der grandiose Ausblick über Nephara und das gesamte Tal konnte ihn nicht wirklich aufheitern. Sein Vater in der Hand eines Nekromanten, seine Schwester im Koma, ein Mitschüler tot und Tiana … Nachdem sie ihm heute Morgen so nahe gewesen war wie nie, schien sie nun weit entfernt. Was mochte Vinjala wohl zu ihr gesagt haben? Am einleuchtendsten erschien ihm, dass er aus der anderen Welt stammte und auch dorthin zurückkehren würde. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, bei dem er nicht bleiben und das nicht mit ihm gehen konnte. Wenn er in den nächsten Ferien wieder herkäme, würde sie schon fast zwei Jahre älter sein.
Wollte Vinjala ihre Freundin also nur vor einem gebrochenen Herzen bewahren? So weh ihm das tat, musste er doch anerkennen, dass sie dann eine gute Freundin für Tiana wäre. Und doch, er konnte seine Gefühle für Tiana nicht leugnen und sie auch nicht aus pragmatischen Gründen unterdrücken. Es musste einfach einen Weg geben.
Trübsinnig starrte er ins Tal. Dort entstand eine Zeltstadt, wo die Soldaten lagern sollten, die der Fürst sammelte. Die Brände in der Stadt selbst waren gelöscht, nur die verkohlten Dachstühle einiger ausgebrannter Häuser kündeten noch von dem Chaos, das dort geherrscht hatte. Auf dem Markt vor der Stadt war geschäftiges Treiben zu sehen, so als habe die Schlacht gestern gar nicht stattgefunden. Tristan folgte einem Gespann mit dem Blick, wie es die Straße vom Markt entlang fuhr, den schmalen Hügelkamm hinauf, zu der Stelle, wo er mit Martin aus dem Wald gekommen war. Als das Gespann von den Bäumen verschlungen wurde, ließ er den Blick weiter gen Westen schweifen, wo weit entfernt der Vulkan emporragte, in dessen Krater er diese Welt betreten hatte. Dieser Anblick erinnerte ihn nochmals daran, dass er nicht hier war um zu bleiben, sondern um seinen Vater zu finden und mit ihm zur Erde zurückzukehren.
Vielleicht, wenn er eine Weile weiter so darüber nachgedacht hätte, wäre es ihm gelungen seine Gefühle für Tiana zu zügeln, doch als sie auf die Mauer kletterte und sich neben ihn setzte, tat sein Herz einen Sprung und wischte all diese Gedanken fort.
»Hallo«, grüßte er und blickte sie erwartungsvoll an. Sie sah noch immer bedrückt aus und schaute stur geradeaus, hinab ins Tal. »Wie geht es dir?«, fragte er.
Sie nickte. »Es geht«, erwiderte sie einsilbig.
Eine Weile herrschte Schweigen und Tristan überlegte, was er sagen sollte. Schließlich beschloss er, alles auf eine Karte zu setzen. »Ich habe vorhin gehört, wie Vinjala mit dir sprach. Ich meine, als sie dich abgeholt hat. Sie wollte wissen, was du da tust.«
Tiana sah ihn direkt an. Ihr Blick war traurig und in Tristan wuchs der Impuls, sie an sich zu ziehen und an seiner Schulter zu trösten. »Ja«, sagte sie aber nur leise, nichts weiter.
Tristan hatte gehofft, wenn er offen ließ, was er verstanden hatte, würde sie ihm vielleicht mehr verraten. »Was …Wie hat sie das denn
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