Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verschollen

Verschollen

Titel: Verschollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Benne
Vom Netzwerk:
gehen. Er trat bis auf Armlänge heran und bückte sich, um in das Gesicht des Paladins blicken zu können. Dessen Augen blickten starr, der Mund stand offen – der Mann war offensichtlich tot. Und es war nicht Tristans Vater, viel älter, mit faltigem Gesicht und das Haar schon ergraut. Dennoch konnte Tristan den Blick nicht von dem geschundenen Leib abwenden. Der Paladin war gefoltert worden, verkrustete Wunden bedeckten den ganzen Körper.
    Tristan hörte Jessica neben sich schluchzen. »Das ist Henry, einer von den Paladinen, die mit mir losgezogen sind«, sagte sie tonlos. Mit winzigen Blitzzaubern durchschnitt sie die Ketten und fing den leblosen Körper auf. Sie bettete ihn auf den Rücken und schloss ihm die Augen. Tränen tropften von ihrem Gesicht auf den Toten. »Zu spät«, murmelte sie.
    »Großvater?« Das war Tianas Stimme. Tristan blickte sich zu ihr um. Nein, sie sah nicht in seine Richtung, sondern nach rechts. Dort, ganz am Rande des Lichtscheins sah er es nun auch. Da hing eine weitere Gestalt in Ketten. Tristan konnte sie nicht genau erkennen, aber Tiana war schon näher getreten.
    Der Gefangene bewegte sich, hob den Kopf. »Tiana?« Die Stimme klang brüchig und doch … Tristan stand auf und ging vorsichtig näher, während Tiana vorstürmte und dem Paladin half, sich aufzurichten, ihn stützte und fieberhaft Heilzauber beschwor, um ihn zu stärken.
    »Tiana, mein Engel?« Die Stimme klang noch immer ungläubig.
    Auch Jessica erhob sich und ließ ihre Leuchtkugel zu dem Gefangenen schweben. Geblendet von dem plötzlichen Licht, wandte der Paladin den Kopf ab. Sein Körper war in ähnlich schlechter Verfassung wie der des Toten und auch seine Haare und sein Bart waren lang und verfilzt. Vorsichtig drehte er den Kopf wieder zu Tiana, die sich noch immer um ihn bemühte. Er rang sich ein Lächeln ab und sah zu den anderen. »Jessica!«, rief er aus. Dann fiel sein Blick auf Tristan und seine Augen weiteten sich. »Tristan? Was …«
    Tristan stand da, als hätte ihn ein Versteinerungszauber getroffen. Da stand sein Vater, geschunden, verletzt, aber am Leben. Aber da stand auch Tiana, die ihn Großvater genannt hatte, und plötzlich fielen Tristan viele Worte wieder ein, die gesagt worden waren und nun einen Sinn ergaben.
    »Wir sind viel mehr als Freunde!«, hatte Tiana gesagt.
    »Einige Paladine haben hier Familie«, waren Martins Worte gewesen.
    »Papa und ich …« Seine Mutter hatte den Satz nicht vollendet. Aber nun, plötzlich, sah Tristan das Puzzle zusammengesetzt vor sich. Sein Vater hatte seine alte Familie verlassen und hier eine neue gegründet, Kinder gezeugt und sogar schon Enkel bekommen, von denen einer Tiana war. Wie viel Zeit hatte er wohl mit ihnen verbracht? Mehr als mit mir, dachte Tristan bitter. Ihm wurde übel, als ihm klar wurde, dass er Tianas Onkel war.
    Sie sah verlegen zu ihm, Martin, Vinjala und Jessica schauten betreten zu Boden. Sie alle hatten es gewusst und auch im Blick seines Vaters las er die Schuld. Verraten und betrogen kam Tristan sich vor und beides überwog die Freude bei Weitem. Er wandte sich ab.
    »Tristan, ich …«, setzte Darius an, wandte sich dann aber an Jessica. »Was tut er hier? Und könntest du mir bitte die Fesseln abnehmen?«
    Jessica verfuhr mit seinen Ketten ähnlich wie bei dem Toten, sodass sie zwar durchtrennt wurden, die Fesseln aber an den Handgelenken blieben. »Vinjala, hilf Tiana bitte mit den Heilzaubern. Katmar, bring etwas von unserem Wasser.« Als Darius sie unterbrechen wollte, hob sie gebieterisch die Hand. »Ich weiß, dir brennen viele Fragen unter den Nägeln. Mir aber auch, und die erscheinen mir im Moment wichtiger.« Sie blickte sich noch einmal im Raum um. »Wo sind die anderen Paladine?«
    Darius sah zu Henrys Leichnam hinüber. »Man brachte nur drei von uns von der Schlacht hierher. Daniel, Claude und mich. Die anderen sind alle schon auf dem Schlachtfeld gefallen, sie haben nur die Leichen mitgenommen, keine Ahnung, warum. Henry und Jean-Luc brachten sie erst vor ein paar Tagen. Jean-Luc war so schwer verletzt, dass er binnen Stunden …« Darius atmete zitternd und kämpfte mit den Tränen. »Wir hätten ihn heilen können, doch so wie wir angekettet waren, mussten wir zusehen, wie er langsam starb. Henry haben sie zu Tode gefoltert, so wie Daniel vorher. Claude haben sie damals auch halbtot mitgenommen, ich glaube nicht, dass er noch lebt.«
    »Nein«, hauchte Katmar entsetzt.
    Darius blinzelte zu ihm herüber.

Weitere Kostenlose Bücher