Verschollen im Taunus
daß er als sonnengebräunter und muskelgestählter Beachboy Heerscharen von weiblichen Topmodels zur orgastischen Raserei brachte, oder er in eine andere, der Realität näherliegende Rolle geschlüpft war und diese in seinem Traum detailverliebt ausgeschmückt hatte. Aber als Ameise? Waren das nicht die Tierchen, die den kompletten Tag mit Arbeiten verbrachten? Herr Schweitzer begann zu schwitzen und röchelte. Und dann vermischte sich die Realität mit seinem Wissen um diese emsigen Krabbeltiere. Ameisen hatten eine Königin. Der Detektiv auch. Diese hieß Angela Merkel. Er sah sich mit seinem Mundwerkzeug Blätter ausschneiden, die sein Gewicht um ein Vielfaches übertrafen. Mit einem Artgenossen schleppte er ein zu groß geratenes Blatt Richtung Bau. Keine Frage, man wollte der Königin, also der Bundeskanzlerin, imponieren. Andere Ameisen wuselten um ihn herum und traten ihm gelegentlich auf die zarten Beinchen. Als er mit seinem neuen Kumpel das Blatt im Inneren des Baus abgeliefert hatte, wurde die Arbeitsameise Simon Schweitzer der Königin ansichtig. Sie lag ausgestreckt und nackt auf einem kleinen Himmelbett. Zudem fehlten ihr die Pigmente, da sie nie das Haus verließ und nie dem Sonnenlicht ausgesetzt war. Da fiel ihm auch wieder die einzige Bestimmung der Königin ein, die da lautete, Nachwuchs zu erzeugen. Doch bevor er sich in sein unausweichliches Schicksal fügte – was zuviel ist, ist zuviel! – erwachte Herr Schweitzer. Besser war das.
Er hatte den Geschmack einer wochenlang getragenen Socke im Mund. Die Leidensgeschichte Christi spiegelte sich in seinem Gesichtsausdruck. Der Oberkommissar tat sich schwer damit, die Augen zu öffnen. Im Nachbarschlafsack wurde noch kräftig Holz gesägt. Er mußte pinkeln. Mit der gleichen Dringlichkeit wollte sein Durst gelöscht sein. Schmidt-Schmitt schälte sich aus seinem Schlafsack und erhob sich. Mit wackligen Beinen trat er vor die Tür. Über den Dächern Oberrads war die Sonne hinter der einzigen Wolke am Himmel versteckt. Das sah fast schon nach einem Postkartenmotiv aus. Doch dafür hatte er kein Auge. Er entleerte seine Blase ins Erdbeerbeet. Dann ging er zum fensterlosen Schuppen, der nicht viel größer war als ein Dixi-Klo, und entnahm dem Kasten eine Flasche Mineralwasser.
Im Campingstuhl sitzend öffnete er den Verschluß. Er trank in großen Schlucken und rülpste ausgiebig. Er wünschte sich, die Gegenwart wäre nicht ewig und er könnte sein Leiden per Zeitsprung verkürzen. Dann sah er den Zettel, den er gestern, oder bereits heute, geschrieben hatte. Michailovitsch, Sparta und Bröndby. Im ersten Moment erkannte er seine eigene Schrift nicht. Doch nach und nach erinnerte er sich der Gedanken wieder, die er beim Niederschreiben gehabt hatte, und dachte sie zu Ende. Der Oberkommissar schnaufte verächtlich. Was ihm im Alkoholrausch noch luzide und glasklar eingeleuchtet hatte, erschien ihm nun doch sehr weit hergeholt. Trübsinnig betrachtete er den Zettel. Eine namenlose Trauer überfiel ihn, als er an seinen Kumpel Simon Schweitzer dachte. Nein, nein und nochmals nein. Doch halt! Waren Gottes Wege nicht unergründlich? Warum also sollte dieser Michailovitsch nicht doch deswegen in Frankfurt weilen, um genau das zu tun, was er bereits in Bröndby und Prag getan hatte? Er erinnerte sich an die Worte des Kollegen, der Michailovitsch vernommen hatte. Der Russe sei aus geschäftlichen Gründen hier. Wie diese aber genau aussahen, darüber hatte er kein Wort verloren. Er mußte mit jemandem reden. Das hätte er am liebsten mit Herrn Schweitzer getan. Der konnte genau so komisch denken wie er selbst und hatte denselben bizarren Humor. Er griff nach dem Zettel und drehte ihn zwischen seinen Fingern, geradenwegs so, als würde eine Geisterhand die Antwort auf seine wirren Fragen auf die Rückseite schreiben. Noch immer fand er seine Idee, Alexander Michailovitsch wolle ein paar seiner Millionen in den Bundesligisten Eintracht Frankfurt investieren, völlig aberwitzig. Und bevor er Roland Stipp weckte, um ihn mit dieser irren Möglichkeit zu konfrontieren, ging er in die Hütte, um sein Handy zu holen. Erst wollte er wissen, ob sich im Fall Simon Schweitzer etwas getan hatte, zum Clown konnte er sich danach immer noch machen.
Kuh und Hühner waren gefüttert. Noch am Abend hatte Dagmara Lakomy den Verletzten gesäubert und versorgt. Seinen Kopf hatte sie auf ein flauschiges Kopfkissen gebettet und die vielen Schürfwunden desinfiziert. Der rechte
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