Verschollen
behilflich sein. Aber ich kann doch immerhin sagen, was meiner Meinung nach damals wahrscheinlich passiert ist. Und ich meine damit die gemeingültige Auffassung und keine zweifelhaften Theorien über das Wer und Warum. Wir können wohl davon ausgehen, dass sie nicht mehr lebt und dass es sich um ein Verbrechen gehandelt hat. Jemand hat sie umgebracht. Der Verdacht eines Sexualverbrechens liegt nahe. Ob es nun geplant oder ein Versehen war, ein Vergewaltigungsversuch, der vielleicht außer Kontrolle geriet, darüber kann man nur noch spekulieren...«
Er unterbrach sich, blinzelte wieder.
»Das Einzige, was man mit einiger Sicherheit sagen kann, ist wohl, dass sie den Täter gekannt hatte, dass er ihr bekannt war.«
»Warum glauben Sie das?«, fragte Nielsen.
Olle Ivarsson breitete die Arme aus.
»Es gibt immer jemanden, der etwas sieht, das ist meine Erfahrung. Sie wohnten zwar ein wenig außerhalb, aber dennoch haben Leute sie nach Hause kommen sehen. Es gibt immer jemanden, der etwas gesehen hat. Und hätte sich ein Fremder in der Stadt aufgehalten, hätten wir es herausbekommen.«
»Es hätte jemand auf der Durchreise sein können...«
»Nicht dort oben, wo sie wohnten. Und es hätte jemand etwas hören müssen, wenn sie ins Auto gezwungen worden wäre. Sie war jung und stark und hätte gekämpft. Nein, das Wahrscheinlichste ist, dass sie ihn kannte und freiwillig mitgegangen ist. Ja, es kann sich sogar um eine Verabredung gehandelt haben, ein Treffen, das im Voraus vereinbart war.«
»Gibt es Anhaltspunkte dafür?«
Olle Ivarsson wiegte ein wenig mit dem Kopf vor und zurück.
»Tja, sie war eindeutig die Erste, die den Festplatz wieder verlassen wollte. Sie quengelte, dass sie nach Hause müsse. Und dann, als sie dort abgesetzt wurde, blieb sie noch stehen und sah den anderen hinterher, als wollte sie sicher sein, dass sie weg sind.«
Er holte Luft durch die Nase.
»Aber wie gesagt, das sind auch nur Vermutungen. Und es ist verdammt lang her. Fast ein halbes Leben. Für einige ein ganzes - oder mehr.«
5
Gegen sieben hatte er den Wagen aus der Parkgarage geholt, einen dunklen Toyota Pick-up. Er ließ sich in den noch spärlichen Morgenverkehr gleiten und fuhr auf der E 4 Richtung Norden. Kurz hinter Uppsala hielt er an, kaufte ein paar Flaschen Mineralwasser und Zeitungen, die er durchblätterte. Nichts. Das hatte er auch nicht erwartet, noch nicht. Dann fuhr er in gemächlichem Tempo weiter. Er warf einen Blick auf die Uhr und versuchte, die Geschwindigkeit seinem Zeitplan anzupassen.
Der Himmel hing tief und war grau. Vereinzelt ein Regenguss, aber nach und nach nahm der Niederschlag ab, und die Wolkendecke begann aufzureißen. Auf der Höhe von Gävle fuhr er in eine Parkbucht und hielt an. Der Himmel war jetzt klar und hellblau. Die fahle Sonne liebkoste die noch feuchte Fahrbahn. Er ließ den Blick hinüber zum Wald wandern, auf der anderen Seite des Wildschutzzaunes. Die Landschaft hatte etwas Reingewaschenes, wie immer im Herbst. Und etwas Vergängliches, Unbewegliches. Auch der Verkehr, der unaufhörlich an ihm vorbeiglitt, verlieh ihm ein ähnliches Gefühl. Daran war nichts Besonderes, es war nur ein gleichmäßiger Strom von Fahrzeugen mit gesichtslosen Insassen. Alles irgendwie belanglos, ohne jede Bedeutung. Er mochte dieses Gefühl.
Er nahm das Handy und machte den geplanten Anruf. Dann startete er den Wagen und fuhr aus der Parkbucht. Erneut überprüfte er die Uhrzeit. Bald zehn. Er hatte noch genügend Zeit. Wenn er Lust hätte, könnte er noch immer seinen Plan ändern.
Dieses Mal wählte er den Weg über Norden. Er machte einen Stopp in Sundsvall und fuhr dann noch einige Kilometer, ehe er nach Westen abbog und ein Stück dem Flusstal des Indals folgte. Von dort bog er erneut ab, nun Richtung Südwest, und suchte seinen Weg über verschlungene, schlecht erhaltene Wege.
Das Haus lag etwas abseits der Straße. Abgeschieden, kein anderer Hof war in der Nähe. Zwischen Straße und Haus erstreckten sich ein paar Äcker, der Wald erhob sich unmittelbar dahinter.
Er fuhr daran vorbei, drehte nach einigen Kilometern um und suchte nach einer geeigneten Abfahrt. Schließlich fand er eine Wegkrümmung, die zu einer alten Kiesgrube führte, nur wenige Meter von der Straße entfernt. Hier hielt er den Wagen an und machte den Motor aus.
Er war seit den frühen Morgenstunden ununterbrochen unterwegs gewesen. Nun war es bald vier Uhr. Er sank in den Sitz zurück, saß regungslos da und
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