Verschollen
plötzlich ein nagendes Hungergefühl im Magen. Für eine Sekunde empfand er eine unerklärliche Lust, sich in das zerschlissene Sofa sinken zu lassen und die Reste vom Teller zu essen.
Dieses Gefühl ließ ihn erstarren, eine Welle des Ekels durchströmte seinen Körper. Heftig schüttelte er sich, warf die Hände vors Gesicht und grub seine Nägel tief in die Haut. Einen Augenblick blieb er so stehen, ehe er leise fluchte und die Hände wieder senkte. Dann drehte er sich um, ging hinaus in den Flur, nahm den blutigen Teppich und die Lappen zusammen mit den Kleidungsstücken unter den Arm, löschte das Licht und verließ das Haus. Er zog die Tür zu, verschloss sie, ging zum Wagen, setzte sich hinein und startete.
Der Weg endete an einem Wendeplatz. Im Licht der Scheinwerfer konnte man zur einen Seite den Aushub eines Schachtes sehen, zur anderen erhoben sich sanft ansteigende Felsplatten mit lichtem Kiefernbewuchs. Er schaltete die Scheinwerfer aus und saß eine Weile in der pechschwarzen Dunkelheit. Dann holte er die Stirnlampe hervor, setzte sie auf, knipste sie an, öffnete die Tür, ging um den Wagen herum und zog die Wagenplane beiseite.
Er zerrte den Körper - der bereits steif zu werden begann - zu sich, beugte sich und ließ das Bündel über seine Schulter gleiten. Die Entfernung maß ungefähr hundertfünfzig Meter. Der Boden war eben, aber rutschig vom Regen. Er ging langsam, gebückt unter dem Gewicht. Einige Male sank er auf die Knie und ruhte sich einen Moment aus, ohne seine Last ein einziges Mal loszulassen.
Am Rand der Spalte hielt er an, stellte sich breitbeinig, ein wenig nach vorne gebeugt hin und wartete, bis sich sein Atem wieder beruhigt hatte. Dann holte er einmal tief Luft und warf den Sack mit Schwung in die dunkle Öffnung. Sie war am oberen Rand ungefähr anderthalb Meter breit, hatte weiter unten einen scharfen Absatz, wurde dann immer enger und knickte schließlich in die Tiefe ab. Er sank auf die Knie und ließ den Lichtkegel der Stirnlampe hinunterwandern. Der Plastiksack war so gut wie verschwunden. An der Stelle, an der die Spalte abknickte, sah er in der Reflexion der Lampe das schwarze Material glänzen. Er überlegte kurz, beschloss dann aber, nichts weiter zu unternehmen. Das Gewicht des Schnees im Winter und später das Schmelzwasser würden den Sack nach und nach in die Tiefe drücken.
Er kehrte zum Wagen zurück, setzte sich hinein und kippte den Sitz nach hinten. Einen Augenblick lang sah er das Gesicht des Toten vor sich, merkte aber, wie die Züge immer undeutlicher wurden, langsam verblichen. Eigentlich erinnerte er sich nur an die Augen und ihren Ausdruck. Das gleiche, undeutliche misstrauische Wiedererkennen wie beim vorigen Mal. Dann folgte die Verwunderung, die aufflammende Furcht, bis die Wogen des Schmerzes sie davonspülten. Und schließlich der Moment des Auslöschens, wie der Blick sich scheinbar nach innen wandte und verschwand.
Aber man konnte nie den genauen Zeitpunkt des Todes bestimmen, dachte er. Vielleicht gab es den gar nicht. Die verschiedenen Körperfunktionen hörten einfach auf, in Intervallen, eine nach der anderen. Der Tod kam quasi in Etappen, während sich das Leben zurückzog und doch dagegen kämpfte, immer denselben, aussichtslosen Kampf.
6
Das Tal erstreckte sich über fast fünf Kilometer in nordsüdlicher Richtung. Unbeirrbar schlängelte sich ein dünnes Rinnsal durch das seichte, teilweise zugewachsene Ufergelände, wurde jetzt im Herbst fast zu einem stehenden Gewässer. Im Westen schloss sich eine beinahe unberührte Waldgegend an. Im Osten sah man die Gebäude eines Vorortes.
Nielsen machte Tjarrko von der Leine und ließ ihn losstürmen. Die Herden von Kälbern, die hier im Sommer weideten, waren jetzt verschwunden. Er schien ganz alleine im Tal zu sein. Langsam ging er weiter, blinzelte ins Sonnenlicht. Ein gleichmäßiger Wind wehte ihm ins Gesicht. Dieser Herbst würde wohl mild werden, dachte er. Wogegen er nichts einzuwenden hatte, gegen einen milden Herbst und einen grünen Winter. Er würde sich nicht beschweren.
Was er nicht ertragen konnte war die Dunkelheit. Zumindest jetzt nicht mehr. Diese endlosen Monate mit Dauerregen, zermatschten Wegen und Finsternis. Ein paar jämmerliche Stunden Tageslicht, in denen man Luft holen konnte. Gerade genug, um nicht einzugehen. War das immer so gewesen? Er zuckte mit den Achseln und lächelte. Vermutlich, er erinnerte sich nur nicht. Vermutlich war früher nichts besser gewesen
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