Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Wattestäbchen innen an der Wange herumfahren. Es muss nur ein bisschen nass werden. Schlucke zuerst die Spucke runter. Dann fahr mit dem Stäbchen hinten im Mund herum, steck es in das Fläschchen, ohne dass es irgendwo drankommt, und dann mach die Flasche zu. Dann kleb oben den Aufkleber drauf und unterschreibe und schreib das Datum hin. Ich muss dir dabei zusehen, also red nicht dazwischen.«
Mit den Händen in Handschellen riss er das Päckchen auf. Es enthielt ein langes hölzernes Stäbchen, länger als die normalen Wattestäbchen. Er steckte es in den Mund wie einen Lutscher und tat so, als würde er hineinbeißen. Während er mich durch die Trennscheibe hindurch ansah, wischte er mit dem Stäbchen über seinen Oberkiefer, drehte es im Rachen und rieb es an einer Wange. Dann hielt er es hoch.
»Jetzt bist du dran.«
Dritter Teil
»Ich stelle mir ein Experiment vor. Man nehme ein Kleinkind, gleich welcher Herkunft, Rasse, Talente oder Vorlieben, nur gesund muss es ein, und ich werde es zu dem machen, was Sie wünschen: zu einem Künstler, einem Soldaten, Arzt, Anwalt, zu einem Priester – oder auch zu einem Dieb. Sie dürfen entscheiden. Das Kleinkind ist für alles gleichermaßen geeignet. Man braucht nur entsprechendes Training, Zeit und die entsprechende Umgebung.«
John E. Watkins
Principles of Behaviourism (1913)
Vierundzwanzigstes Kapitel
Für Mütter ist es anders
Jahrelang war ich nicht darauf gefasst, ein Verfahren zu verlieren. In der Realität geschah das natürlich. Jeder Anwalt verliert mal einen Fall, so wie auch Baseballspieler mehr als die Hälfte der Bälle verschlagen. Aber die Aussicht zu scheitern beeindruckte mich nicht, und ich verachtete Staatsanwälte, bei denen das anders war. Irgendwelche ambitionierten Drahtzieher, die Angst hatten, einen Fall vor Gericht zu bringen, den sie nicht hundertprozentig gewinnen konnten, und die einen Freispruch erst gar nicht riskieren wollten. Für einen Staatanwalt bedeutet dieses Urteil keine Niederlage, schon gar nicht, wenn die Alternative irgendeine windige außergerichtliche Einigung ist. Man kann unsere Arbeit nicht einfach daran messen, wie viele Fälle wir verloren und wie viele wir gewonnen haben. In Wahrheit sagen diese Zahlen gar nichts über die Qualität der juristischen Arbeit aus. Sie beruhen darauf, dass man sich als Staatsanwalt die sicheren Fälle herauspickt, und die anderen erst gar nicht vor Gericht bringt, egal, was richtig oder falsch gewesen wäre. So machte jemand wie Logiudice das, aber ich nicht. Ich war dafür, zu kämpfen und unter Umständen zu verlieren, anstatt auf Kosten des Opfers einen Deal zu vereinbaren.
Genau deshalb übernahm ich gerne Mordfälle. Es reicht in Massachusetts nicht, sich des Mordes schuldig zu bekennen. Jeder Fall muss vor Gericht gebracht werden. Das ist eine Reminiszenz aus Tagen, als auf Mord die Todesstrafe stand. Bei Kapitalverbrechen waren keine administrativen Abkürzungen und Deals erlaubt. Es stand zu viel auf dem Spiel. Und so erhält jeder Mordfall, egal wie eindeutig, ein Verfahren. Die Staatsanwälte können sich nicht einfach die sicheren Fälle heraussuchen und die anderen fallen lassen. Gut, umso besser , dachte ich immer bei mir. Ich werde den Unterschied machen und selbst die aussichtloseren Fälle gewinnen . So sah ich das gerne für mich. Aber wir machen uns eben alle gerne etwas vor: Wer hinter Geld her ist, redet sich ein, dass sein Reichtum auch andere bereichert; der Künstler redet sich ein, dass seine Werke von zeitloser Schönheit sind, und der Soldat macht sich vor, dass er auf der Seite des Rechts kämpft. Und ich redete mir ein, dass ich vor Gericht Dinge zurechtrücken würde – dass Gerechtigkeit siegte, wenn ich gewänne. Eine solche Einstellung wirkt wie ein Aufputschmittel, und auch bei Jacobs Fall war das so.
Als die Verhandlung nahte, fühlte ich die bekannte Euphorie vor der Schlacht. Es kam mir nicht in den Sinn, dass wir verlieren könnten. Ich war voller Energie, Optimismus, voll Zuversicht und Kampfgeist. Im Rückblick war das merkwürdigerweise von der Realität vollkommen losgelöst. Aber vielleicht ist es auch gar nicht so merkwürdig, wenn man darüber nachdenkt. Es war eine Reaktion auf die Ereignisse.
Das Verfahren war für Mitte Oktober 2007 angesetzt, die Zeit, in der sich die Blätter verfärben. Bald würden die Bäume leer und kahl sein, aber im Augenblick bot der Blätterwald ein wunderbares Schauspiel aus Rot- und Brauntönen.
In der
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