Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Untersuchungshaft zu sitzen, wie das bei den meisten meiner Angeklagten der Fall gewesen war. Angeklagte, die nicht gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt wurden, schienen das Gebäude nur noch durch einen Ausgang zu verlassen – und zwar Richtung Gefängnis und nicht nach Hause. Sie durchliefen das Gerichtsgebäude wie Murmeln auf einer Bahn: vom Untersuchungsgefängnis ganz oben durch die verschiedenen Gerichtssäle nach unten bis ins Parkhaus, wo der Gefängnistransporter schon auf sie wartete. Es war besser für Jacob, wenn er als fast freier Mann und in aller Würde durch den Haupteingang trat. Wer einmal in die Mühlen der Justiz geriet, kam so leicht nicht wieder hinaus.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Die Geschworenen
Im Bezirk Middlesex wurden den Richtern Verfahren angeblich beliebig zugeteilt. Doch glaubte niemand wirklich an ein derartiges Lotteriespiel. Immer wieder landeten die spektakulären Fälle bei denselben Richtern, und diese Richter benahmen sich wie Primadonnen – man konnte davon ausgehen, dass sie hinter den Kulissen die Fäden zogen. Aber niemand beklagte sich. Zum einen, weil es einem mehr geschadet als genützt hätte, zum anderen, weil es vielleicht auch Vorteile hatte. Man braucht schon eine gehörige Portion Selbstvertrauen, um einen Gerichtssaal unter Kontrolle zu halten. Und außerdem war so auch für die Show gesorgt: große Persönlichkeiten für große Fälle.
Und so war niemand über die Wahl von Burton French als Richter in Jacobs Verfahren überrascht. Nicht die Damen aus der Cafeteria mit ihren Häubchen, nicht die erfahrenen Gerichtsdiener, ja wahrscheinlich nicht einmal die Mäuse hinter der Verkleidung. Wenn im Saal die Kamera lief, dann saß mit Sicherheit Burton French auf der Richterbank. Wahrscheinlich war er der einzige Richter, der in der Öffentlichkeit bekannt war. Er war oft im Lokalfernsehen zu sehen, wo er sich zu Rechtsfragen ausließ. Vor der Kamera machte er Eindruck. Als Person war er eher eine lächerliche Erscheinung – ein Körper wie ein Weinfass, der von zwei dünnen Beinchen getragen wurde – aber sein Gesicht vermittelte auf dem Fernsehschirm genau die Ernsthaftigkeit, die wir von einem Richter erwarten. Er bediente sich einer klaren Sprache, nicht dieses Einerseits-Andererseits, das Journalisten so lieben. Und er versuchte nie zu beeindrucken, zu provozieren, anderen etwas vorzumachen oder etwas aufzubauschen, wie das Fernsehen es liebt. Er verließ sich ganz auf den Ausdruck seines kantigen, ernsten Gesichts, senkte das Kinn, richtete die Augen direkt in die Kamera und sagte dann Sätze wie: »Das Gesetz lässt dieses oder jenes nicht zu.« Zuschauer dachten dann gerne: Wenn das Gesetz selbst zu uns sprechen könnte, dann klänge es genau so . Und das war nur allzu verständlich.
Für die Anwaltschaft, die sich morgens vor Gerichtseröffnung bei Cinnabon in der Nähe des Gerichts zum Klatsch versammelte oder mittags zum Lunch, war das alles eher abstoßend, weil die vorgeblich geradlinige Haltung von Richter French in ihren Augen purer Humbug war. Jener Mann, der sich als die Verkörperung des Gesetzes präsentierte, war ihrer Meinung nach ein öffentlichkeitsgeiles intellektuelles Leichtgewicht und im Gerichtssaal ein kleinkarierter Tyrann. Genau die Eigenschaften, die ihn zu einem perfekten Repräsentanten der Justiz machten, wenn man mal richtig darüber nachdenkt.
Als Jakes Verfahren begann, waren mir die Unzulänglichkeiten von Richter French selbstverständlich piepegal. Was jetzt zählte, war das, was kam, und Burt French war für uns ein Vorteil. Er war durch und durch konservativ und würde sich von einer neuen wissenschaftlichen Theorie nicht beeindrucken lassen. Er hatte den Instinkt eines Mobbers für Schwäche und Unsicherheit und liebte es, schlecht vorbereitete Anwälte in die Mangel zu nehmen. Lynn Canavan machte einen Fehler, als sie ihm Neal Logiudice in einem so wichtigen Fall gegenüberstellte. Aber hatte sie eine andere Wahl? Mich konnte sie ja nicht mehr einsetzen.
Und dann ging es los.
Aber wie so oft bei Ereignissen, denen man lange entgegengefiebert hat, gab es zunächst eine Verzögerung. Wir warteten in dem überfüllten Flur vor dem Saal 12B, während die Uhrzeiger erst neun, dann Viertel nach neun und schließlich halb zehn anzeigten. Jonathan saß völlig unbeeindruckt bei uns. Hin und wieder fragte er bei der Mitarbeiterin des Richters nach – es gab offensichtlich Probleme mit der Kamera, welche die
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