Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Es war ein kleines Kreuz, das an den Rändern unscharf und mit den Jahren immer dunkler geworden war und jetzt wie eine dunkellila Prellung aussah. Ich hatte eine falsche Erinnerung daran gehabt, so wie auch an ihn selbst: Er war nur mittelgroß, mager und muskulöser, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Selbst mit zweiundsiebzig hatte er einen sehnigen Körper. Außerdem ein neues Tattoo, komplizierter und kunstvoller als das andere: ein Drache, der sich um seinen Nacken schlang, sodass Schwanzspitze und Kopf sich an seiner Gurgel trafen.
»War ja auch Zeit, dass du dich mal sehen lässt.«
Ich schniefte verächtlich. Seine Gefühle waren verletzt, er war hier das Opfer – es war einfach unglaublich und machte mich wütend. Es war dreist und typisch für diesen Gauner – immer schwätzen, taktieren, manipulieren.
»Wie lange ist das jetzt her?«, fuhr er fort. »Irre lang. Ich verrotte hier, und du hast nicht mal Zeit, deinen Alten zu besuchen. Nicht ein einziges Mal. Was bist du bloß für ein Sohn? Welcher Sohn tut seinem Alten so was an?«
»Hast du diese Rede vor dem Spiegel geübt?«
»Werd nicht frech. Was hab ich dir getan? He? Gar nichts. Aber du kommst mich in vierzig Jahren nicht einmal besuchen. Deinen eigenen Vater. Welcher Sohn macht so was?«
»Ich bin dein Sohn, das ist Erklärung genug.«
»Mein Sohn? Nicht mein Sohn. Ich kenn dich doch gar nicht, ich hab dich nie gesehen.«
»Willst du meine Geburtsurkunde sehen?«
»Was schert mich deine blöde Geburtsurkunde. Meinst du, die macht dich zu meinem Sohn? Ein Fick vor Jahren, das bist du. Was glaubst du denn? Dass ich mich freue, dich zu sehen? Meinst du, ich würde vor Freude jubeln?«
»Du hättest Nein sagen können. Ich war nicht auf deiner Liste von Besuchern.«
»Die ist leer. Was glaubst du denn? Wer soll denn auf meiner Liste stehen? Die lassen Besuche hier gar nicht zu, nur von der engsten Familie.«
»Soll ich gehen?«
»Nein. Hab ich das gesagt?« Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Ein Loch ist das hier, von allen das schlimmste. Ich war auch schon woanders, die verlegen mich immer wieder woandershin. Du machst irgendwo was falsch, und dann landest du hier. Es ist ein absolutes Loch.«
Dann verlor er offenbar das Interesse an dem Thema und schwieg.
Ich erwiderte nichts. Bei einer Zeugenvernehmung vor Gericht habe ich immer wieder festgestellt, dass man am besten wartet und nichts sagt. Die Zeugen springen dann in die Lücke aus verlegenem Schweigen. Wie unter Zwang reden sie weiter, wollen beweisen, dass sie nichts verschweigen, beweisen, dass sie schlau sind und wissen, wovon sie reden, wollen dein Vertrauen gewinnen. Diesmal schwieg ich vermutlich aus bloßer Gewohnheit. Ganz sicher wollte ich nicht gehen. Nicht, bis er Ja gesagt hatte.
Seine Laune änderte sich. Er sank in sich zusammen und war nicht mehr gereizt, sondern resigniert und voller Selbstmitleid.
»Tja, aus dir ist was geworden«, fing er an. »Sie hat dich gut durchgebracht.«
»Sie hat alles sehr gut gemacht.«
»Wie geht es ihr?«
»Was interessiert’s dich, wie es meiner Mutter geht.«
»Es ist mir egal.«
»Dann halt deinen Mund.«
»Warum?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe sie vor dir gekannt«, meinte er. Er wand sich, Lust mimend, in seinem Stuhl und bewegte die Hüften vor und zurück.
»Dein Enkel hat Probleme. Weißt du davon?«
»Ich? Ich wusste nicht einmal, dass ich einen Enkel habe. Wie heißt er?«
»Jacob.«
»Jacob?« Er lachte.
»Was ist daran so lustig?«
»Ein typischer Schwulenname.«
»Es ist ein Name wie jeder andere.«
Er konnte sich nicht halten vor Lachen und sang mit Falsettstimme: »Jaaaacob!«
»Pass auf, was du sagst. Er ist in Ordnung.«
»Ach ja? Und was machst du dann hier?«
»Pass auf, was du sagst, hab ich gesagt.«
»Und was für Probleme hat der kleine Jacob?«
»Mord.«
»Mord? Mord. Wie alt ist er?«
»Vierzehn.«
Mein Vater legte den Hörer in seinen Schoß und ließ sich zurück in den Stuhl fallen. Dann setzte er sich wieder auf und fragte: »Wen hat er umgebracht?«
»Niemanden. Er ist unschuldig.«
»Klar. Ich auch.«
»Er ist wirklich unschuldig.«
»Schon in Ordnung.«
»Hast du nichts von der Sache gehört?«
»Hier drinnen kriegt man nichts mit. Das ist wie auf dem Klo.«
»Du musst bald der Älteste hier sein.«
»Einer der Ältesten.«
»Ich frage mich, wie du das aushältst.«
»Hart wie Stahl.« Wegen seiner Handschellen musste er beide Arme hochheben,
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