Verschwiegen: Thriller (German Edition)
heute wieder losgeht, Jacob?«
»Weiß nicht.«
»Bist du nervös? Machst du dir Gedanken? Wie ist das für dich?«
»Weiß nicht.«
»Wie kannst du das nicht wissen? Wer sonst, wenn nicht du?«
»Ich habe gerade keine Lust zu reden, Mom.«
Das war die höfliche Floskel, die er benutzen sollte, anstatt uns Eltern einfach links liegen zu lassen. Aber mittlerweile setzte er dieses »ich habe gerade keine Lust zu reden« so oft und so mechanisch ein, dass von Höflichkeit keine Rede mehr sein konnte.
»Kannst du mir nur sagen, ob es dir gut geht, damit ich mir keine Sorgen machen muss.«
»Ich habe doch gesagt: Ich habe gerade keine Lust zu reden.«
Laurie warf mir einen entnervten Blick zu.
»Deine Mutter hat dich etwas gefragt. Eine Antwort wird dich nicht umbringen.«
»Mir geht’s gut.«
»Ich glaube, deine Mutter war an ein paar Einzelheiten interessiert.«
»Dad, bitte …« Er wandte sich wieder voll und ganz seinem Computer zu.
Ich zuckte mit den Achseln, während ich Laurie ansah.
»Der Junge meint, es geht ihm gut.«
»Das habe ich auch verstanden. Vielen Dank.«
»Keine Sorge, Mutter. Alles klar und tschüss.«
»Und wie geht’s dir, Ehemann?«
»Mir geht’s gut. Ich habe gerade keine Lust zu reden.«
Jacob warf mir einen ärgerlichen Blick zu.
Laurie lächelte wider Willen. »Ich brauche eine Tochter, damit hier ein bisschen Ausgleich ist und ich jemanden zum Reden habe. Mit euch beiden hab ich das Gefühl, mit zwei Grabsteinen unter einem Dach zu leben.«
»Du brauchst eine Ehefrau.«
»Daran hatte ich auch schon gedacht.«
Wir brachten Jacob gemeinsam zur Schule. Die meisten Eltern taten das Gleiche, und um acht sah es vor der Schule aus wie auf einem Jahrmarkt. Vor uns stauten sich Honda-Minitransporter, Familienkutschen und Sportwagen. In der Nähe parkten einige Kleintransporter, bestückt mit Antennen, Satellitenschüsseln und Kisten. Die Polizei hatte beide Zufahrten des Rondells gesperrt. In der Nähe des Schuleingangs hatte sich ein Polizist aufgestellt, ein anderer wartete in einem Streifenwagen. Die Schüler bahnten sich ihren Weg durch diese Hindernisse und liefen Richtung Schuleingang, den Rücken unter der Last der Rucksäcke gebeugt. Die Eltern blieben auf den Gehwegen stehen, manche begleiteten ihre Kinder bis kurz vor die Eingangstür.
Ich parkte unseren Minivan einen Häuserblock entfernt, und wir saßen da und glotzten.
»Wow«, meinte Jacob leise.
»Wow«, pflichtete Laurie ihm bei.
»Wahnsinn.« Wieder Jacob.
Laurie sah mitgenommen aus. Ihre Linke baumelte von der Armlehne herab, ihre langen Finger, ihre wohlgeformten blanken Nägel. Sie hatte schon immer schöne, elegante Hände gehabt. Ich dachte an die Waschfrauenhände meiner Mutter mit den plumpen Fingern. Ich langte hinüber, nahm ihre Hand und verschränkte meine Finger in ihren, sodass unsere beiden Hände zu einer Faust verschmolzen. Der Anblick ihrer Hand in meiner rührte mich. Ich warf ihr einen aufmunternden Blick zu und bewegte spielerisch unsere verschränkten Hände. Für meine Verhältnisse war das eine geradezu überschwängliche Gefühlsäußerung, und Laurie antwortete dankbar mit einem Druck ihrer Hand. Dann wandte sie ihren Blick wieder der Straße zu. Ihr dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen. An ihren Augen- und Mundwinkeln wurde ein Netz von Fältchen sichtbar. Doch als sie zur Seite blickte, kam es mir vor, als sähe ich irgendwie immer noch ihr junges, glattes Gesicht.
»Was gibt’s?«
»Nichts.«
»Du starrst mich an.«
»Ich bin mit dir verheiratet, ich darf dich anstarren.«
»Ist das rechtlich zulässig?«
»Ja. Anstarren, angaffen, anmachen, alles, was mir einfällt. Glaub mir, ich bin Jurist.«
Jede gute Ehe ist eine lange Kette von Erinnerungen. Ein Wort, eine Geste, eine bestimmte Stimmlage kann unendlich viele gemeinsame Augenblicke ins Gedächtnis rufen. Laurie und ich flirteten seit mehr als dreißig Jahren miteinander, genau seit dem Tag, als wir uns im College begegneten und sofort verrückt nacheinander waren. Natürlich war das heute nicht mehr ganz so. Im Alter von einundfünfzig gerät die Liebe in stillere Fahrwasser. Gemeinsam drifteten wir durch die Zeit. Doch erinnerten wir uns beide noch daran, wie alles angefangen hatte, und selbst heute, in der Mitte meines Lebens, empfinde ich, wenn ich an dieses junge strahlende Mädchen denke, immer noch jenes Glücksgefühl ersten Verliebtseins. Es ist immer noch da, flackernd wie eine
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