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Verschwiegen: Thriller (German Edition)

Verschwiegen: Thriller (German Edition)

Titel: Verschwiegen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Landay
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Joggerin, die den Toten gefunden hatte. Ich kannte sie nicht näher, aber ihr Gesicht kam mir aus der Stadt, dem Markt, Starbucks oder der Reinigung bekannt vor. Newton ist eine Kleinstadt, aber sie teilt sich in verschiedene Bezirke, in denen man immer wieder denselben Leuten begegnet. Merkwürdigerweise konnte ich mich nicht erinnern, sie jemals beim Joggen im Cold Spring Park gesehen zu haben, obgleich wir offenbar beide zur Zeit des Mordes oft unterwegs waren.
    Logiudice führte sie durch die Aussage, die sich hinzog. Er war überpingelig und kitzelte jedes Detail und jedes Gefühl aus ihr heraus. Normalerweise findet nach dem Eröffnungsplädoyer eine merkwürdige Veränderung statt: Nachdem der Staatsanwalt erst ganz im Mittelpunkt gestanden hat, lässt er nunmehr den Zeugen den Vortritt. Sie stehen nun im Rampenlicht, und der Staatsanwalt stellt aus dem Hintergrund seine Fragen. Das sind die Spielregeln. Er motiviert die Personen im Zeugenstand mit neutralen Fragen wie: »Und was geschah dann?«, oder: »Was haben Sie dann gesehen?« zum Reden. Doch Logiudice war recht eigen, was die Informationen von Paula Giannetto anging, immer wieder fragte er nach winzigen Einzelheiten. Jonathan erhob keinen Einspruch, denn die Zeugenaussage brachte Jacob mit keiner Silbe in Zusammenhang mit dem Mord. Und ich fühlte, wie Logiudices Argumentation wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel: Er machte keinen großen strategischen Fehler, sondern beging viele kleine Nachlässigkeiten. (Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich es so wollte? Ich will hier keine Objektivität vortäuschen.) Giannetto stand fast eine Stunde im Zeugenstand und erzählte ihre Geschichte, die sich seit dem Mordtag nicht verändert hatte.
    Es war ein kühler, feuchter Frühlingsmorgen. Sie lief gerade durch einen leicht hügeligen Teil vom Cold Spring Park, als sie einen Jungen bemerkte, der mit dem Gesicht nach unten an einem Abhang im Laub lag. Am Fuß des Hanges befindet sich ein kleiner, algenüberwachsener Teich. Der Junge war mit Jeans, Turnschuhen und einem Sweatshirt bekleidet. Sein Rucksack lag neben ihm. Giannetto war allein unterwegs. Sie hatte ein paar andere Jogger und Kinder überholt, die auf dem Weg zur Schule waren (der Park war eine der Schulrouten, denn McCormick grenzte genau an den Wald an), aber in der Nähe des Jungen war niemand zu sehen. Sie hatte auch nichts gehört, weder Schreie noch Kampfgeräusche, denn sie hatte ihren iPod eingeschaltet, den sie in einer Armhalterung mit sich herumtrug. Sie erinnerte sich sogar noch an das Lied, das gerade spielte, als sie den Körper bemerkte: Es war »This is the day« von The The.
    Giannetto hielt an, zog sich die Kopfhörer aus den Ohren und schaute von dem Weg auf den perspektivisch verkürzten Körper und die Sohlen der Turnschuhe hinab. »Alles in Ordnung? Kann ich irgendwie helfen?«, rief sie. Als sie keine Antwort erhielt, kletterte sie zu dem Jungen hinunter und achtete dabei darauf, nicht in dem nassen Laub auszurutschen. Sie war Mutter, erläuterte sie, und für sie war es selbstverständlich, dass sie nachsah, was los war. Sie hoffte, dass andere das auch für ihre Kinder tun würden. Vielleicht war der Junge aufgrund von Übelkeit oder einer Allergie ohnmächtig geworden, oder er hatte Drogen genommen. Sie kniete neben ihm nieder und rüttelte ihn erst an einer, dann an beiden Schultern. Schließlich drehte sie ihn auf den Rücken.
    Erst jetzt bemerkte sie das Blut an seiner Brust, das glänzende, blutgetränkte Laub, die drei Stichwunden, aus denen es rot sickerte. Das Gesicht des Jungen war fahl mit kleinen rosa Flecken. Sie erinnerte sich vage daran, wie kühl sich seine Haut anfühlte, konnte sich aber nicht entsinnen, ihn berührt zu haben. Vielleicht hatte sie leicht seine Haut gestreift, als sie den Körper anhob. Sein Kopf sank nach hinten, der Mund klaffte auf.
    Sie brauchte einen Augenblick, um die surreal anmutende Tatsache zu verarbeiten, dass der Junge in ihren Armen tot war. Sie legte den Leichnam ab, schrie auf und schob sich auf ihrem Hintern von ihm weg. Dann wandte sie sich um und kletterte hastig auf allen vieren den Abhang hinauf zum Weg.
    Einen Augenblick lang habe sie einfach nur allein dagestanden und auf den Toten gestarrt, sagte sie. Aus ihren Kopfhörern erklang immer noch leise der Song von vorher, »This is the day«. Es waren nicht einmal drei Minuten vergangen.
    Diese einfache Geschichte zog sich unglaublich in die Länge. Nachdem Logiudice

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