Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Streiche. Zeugen werden Ihnen hier erzählen, wie das Opfer, der vierzehnjährige Ben Rifkin, den Angeklagten wiederholt geärgert hat. Das hatte nichts besonders Schockierendes, nichts, was die meisten Kinder besonders ernst nehmen würden. Nichts, was Sie nicht auf jedem Kinderspielplatz in jeder beliebigen Stadt miterleben können, wenn Sie dieses Gebäude verlassen.
Lassen Sie mich auch ganz klar sagen: Ben Rifkin war kein Heiliger, und Sie werden einiges über ihn erfahren, das vielleicht nicht sehr schmeichelhaft ist. Aber ich möchte, dass Sie dabei nicht vergessen, dass Ben Rifkin ein ganz gewöhnlicher Junge war. Er war nicht perfekt, er war ein normaler Teenager mit allen Fehlern und Schwierigkeiten, die typisch sind für dieses Alter. Er war vierzehn Jahre alt, stellen Sie sich vor – erst vierzehn –, und hatte noch sein ganzes Leben vor sich. Er war kein Heiliger, aber wer von uns möchte nach den ersten vierzehn Jahren seines Lebens beurteilt werden? Wer war damals schon reif und erwachsen …?
Ben Rifkin war genau der Junge, welcher der Angeklagte gerne gewesen wäre: Er sah gut aus, er war beliebt, und er war cool. Der Angeklagte galt unter seinen Klassenkameraden als stiller, einsamer und etwas merkwürdiger Typ. Ein typischer Außenseiter.
Doch beging Ben Rifkin einen fatalen Fehler, als er diesen Jungen provozierte. Er ahnte nichts von seinem Jähzorn, seinem versteckten Impuls, seinem Drang zu töten.«
»Einspruch!«
»Stattgegeben. Die Jury wird diese letzte Bemerkung zum Tötungsdrang ignorieren, denn sie ist reine Spekulation.«
Logiudice behielt die Jury weiter im Auge. Er stand stocksteif da und schüttelte den Einspruch ab, als ob er ihn kaum wahrgenommen hätte. Der Richter und die Verteidigung versuchen, die Wahrheit zu vertuschen, aber wir, Sie und ich, kennen sie.
»Der Angeklagte schmiedete einen Plan. Er kaufte sich ein Messer. Kein Schnitzmesser oder Schweizer Messer, sondern ein Jagdmesser, mit dem man tötet. Sie werden über dieses Messer noch mehr vom besten Freund des Angeklagten erfahren, der es in den Händen des Angeklagten gesehen hat und hörte, wie der sagte, er würde es gegen Ben Rifkin einsetzen.
Sie werden erfahren, dass der Angeklagte sich einen Mordplan zurechtgelegt hatte. Wochen später beschrieb er den Mord in einer Geschichte, die er verfasste und großspurig im Internet veröffentlichte. Dort erzählt er ganz genau, wie ihm der Gedanke zum Töten kam, wie er den Mord bis ins Kleinste plante und ausführte. Die Verteidigung wird versuchen, diese Geschichte kleinzureden. Sie enthält Einzelheiten, die nur dem Mörder bekannt sein können. Man wird Ihnen sagen: Er hat sich das alles nur ausgemalt. Aber ich frage zurück, und ich bin sicher, Sie werden sich ebenfalls fragen: Welcher Junge malt sich einfach so den Mord an seinem Klassenkameraden aus?«
Er schritt vor und zurück und ließ die Frage auf die Geschworenen einwirken.
»Was wir sicher wissen, ist Folgendes: Als der Angeklagte am Morgen des 12. April 2007 sein Haus Richtung Cold Spring Park verließ, hatte er ein Messer in seiner Tasche und im Kopf einen Plan. Er war bereit. Es brauchte nur noch einen Auslöser, einen Funken, der seinen Jähzorn zum Lodern bringen würde …«
Ein Fingerschnippen.
»Und was war dieser Auslöser? Was machte den Plan zur Tat?«
Er unterbrach sich. Das war genau die zentrale Frage, die Logiudice beantworten musste: Wie kommt ein bislang unbescholtener Junge dazu, ein derartig brutales Verbrechen zu begehen? Das Tatmotiv ist bei jedem Verfahren wichtig, nicht juristisch, sondern für die Geschworenen. Deshalb sind Verbrechen ohne klares Tatmotiv so schwer zu vermitteln. Die Geschworenen wollen begreifen, was geschah und warum. Sie verlangen nach einer verständlichen Antwort. Und die fehlte Logiudice offensichtlich. Alles, was er hatte, waren Theorien, Überlegungen, Wahrscheinlichkeiten, »Mördergene«.
»Vielleicht werden wir das niemals erfahren«, räumte er ein und versuchte, die klaffende Lücke in seiner ganzen Argumentation einfach abzuschütteln. Die Tat blieb nach wie vor unbegreiflich. »Hat Ben ihn beschimpft? Hat er ihn als Schwulen, als Wichser bezeichnet, wie schon so oft zuvor? Als Loser und Freak? Hat er ihn angegriffen, ihn bedroht? Vermutlich.«
Ich schüttelte den Kopf. Vermutlich?
»Was auch immer der Auslöser für den Angeklagten war: Als er Ben Rifkin an jenem tödlichen Aprilmorgen gegen zwanzig nach acht auf seinem Schulweg im Cold
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