Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Kapitel
Nicht schlecht!
Am folgenden Morgen klingelte um halb sechs mein Mobiltelefon. Ich hatte mich über die Jahre so daran gewöhnt, zu den merkwürdigsten Zeiten Anrufe zu erhalten, dass ich den Anruf, der alten Routine folgend, entgegennahm. »Andy Barber!«, meldete ich mich in meinem üblichen Befehlston, der Leute am anderen Ende glauben machen sollte, dass ich nicht geschlafen hatte, egal, wie viel Uhr es war.
»Wer war das?«, fragte Laurie, als ich aufgelegt hatte.
»Jonathan.«
»Ist was passiert?«
»Nein.«
»Und was war dann los?«
Ich spürte, wie sich ein Grinsen über mein Gesicht ausbreitete und mich ein Gefühl ungläubigen Glücks durchströmte.
»Andy?«
»Es ist vorbei.«
»Was meinst mit, es ist vorbei?«
»Er hat gestanden.«
»Wer?«
»Patz.«
»Wie bitte?«
»Jonathan hat genau das getan, was er vor Gericht angekündigt hatte: Er hat ihn einbestellt. Patz hat die Vorladung erhalten und sich letzte Nacht umgebracht. Er hat ein schriftliches Geständnis hinterlassen. Jonathan sagt, sie hätten die ganze Nacht in seiner Wohnung verbracht. Die Handschrift stammt zweifelsfrei von ihm, und das Geständnis ist rechtskräftig. Patz hat alles gestanden.«
»Er hat gestanden? Einfach so? Wie ist das möglich?«
»Es ist unglaublich, nicht wahr?«
»Wie hat er sich umgebracht?«
»Er hat sich erhängt.«
»O Gott.«
»Jonathan sagt, dass er die Einstellung des Verfahrens beantragt, sobald das Gericht aufmacht.«
Laurie schlug sich die Hände vor den Mund. Sie brach in Tränen aus. Wir umarmten uns und liefen dann hinüber zu Jacobs Zimmer, so als ob Weihnachten wäre – oder angesichts des Wunders der Auferstehung vielleicht besser Ostern –, und wir rüttelten ihn wach und umarmten ihn und teilten ihm das Wunder mit.
Und mit einem Schlag war alles anders. Wir zogen uns an. um wieder vor Gericht zu erscheinen, und ließen uns Zeit. Wir schauten Fernsehnachrichten und sahen auf Boston.com nach, aber die Nachricht von Patz’ Freitod wurde noch nicht gemeldet. Und so saßen wir einfach nur da und grinsten uns an und schüttelten ungläubig unsere Köpfe.
Es war so viel besser als ein Juryurteil »nicht schuldig«. Das bedeutet einfach, dass die Beweise nicht für einen Schuldspruch ausreichten. Doch Jacob war nachweislich unschuldig. Es war, als hätte sich diese furchtbare Geschichte niemals ereignet. Ich glaube weder an Gott noch an Wunder, aber das hier war ein Wunder. Anders kann ich es nicht in Worte fassen. Es fühlte sich an, als ob wir durch göttliches Eingreifen errettet worden wären. Wir konnten es nicht fassen und wollten nicht feiern, bis das Verfahren tatsächlich abgeschlossen wurde. Und das war auch das Einzige, was unser Glücksgefühl dämpfte. Theoretisch war es immer noch möglich, dass Logiudice seine Anklage trotz Patz’ Geständnis aufrechterhalten würde.
Jonathan musste die Einstellung nicht einmal beantragen. Noch bevor der Richter die Sitzung eröffnete, hatte Logiudice das bereits getan, und damit wurde die Anklage aufgehoben.
Um Punkt neun Uhr erschien der Richter mit einem erfreuten Lächeln und verlas mit theatralischer Geste die Einstellung des Verfahrens. Er bedeutete Jacob, sich zu erheben: »An Ihrem Gesicht und auch an dem Ihrer Eltern kann ich sehen, dass Sie die gute Nachricht bereits erhalten haben. Und so lassen Sie mich Ihnen die Worte sagen, die Sie sicher hören wollen: Mister Barber, Sie sind ein freier Mann.« Ein Freudenschrei, und Jacob und ich fielen uns in die Arme.
Der Richter schlug mit dem Hämmerchen, seine Miene war voller Nachsicht. Als sich die Stimmung im Saal wieder einigermaßen beruhigt hatte, winkte er der Assistentin. Mit monotoner Stimme, offensichtlich war sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden, verlas sie: »Nach Aufhebung der Anklage Nummer null-acht-Schrägstrich-vier-vier-null-sieben vonseiten der Staatsanwaltschaft ist Jacob Michael Barber wegen Nichterfüllung eines Straftatbestands von jeder Anklage freigesprochen. Die Kaution wird zurückgegeben. Das Verfahren ist eingestellt.«
Verfahren eingestellt – dem Angeklagten steht es somit frei, den Gerichtssaal zu verlassen.
Mary stempelte die Anklageschrift ab, schob sie in die Akte zurück und warf diese in das Ausgangskörbchen für Dokumente. Das tat sie mit einer derart bürokratischen Effizienz, dass es schien, als hätte sie vor dem Mittagessen noch einen ganzen Aktenstapel durchzuarbeiten.
Und es war vorbei.
Oder wenigstens fast. Wir schoben
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