Verschwiegen: Thriller (German Edition)

seiner Anklage war er von der Schule ausgeschlossen worden, und die Stadt war verpflichtet gewesen, die Kosten für eine Privatlehrerin, eine gewisse Mrs. McGowan, zu übernehmen. Wir beschäftigten sie weiter. Mrs. McGowan war die einzige Person, die regelmäßig zu uns nach Hause kam, sie war auch die einzige, die unseren Alltag mitbekam. Immer wenn sie hereinkam, mit ihren schweren Hüften und ohne jeden Schick, wanderten ihre Augen umher, und sie blickte auf Berge schmutziger Wäsche, ungewaschenes Geschirr und Jacobs fettiges Haar. Wir müssen einen merkwürdigen Eindruck auf sie gemacht haben. Aber sie kam trotzdem weiter jeden Morgen und setzte sich mit Jacob an den Küchentisch, ging mit ihm den Stoff durch und schimpfte mit ihm, wenn er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. »Keiner wird dich bedauern«, sagte sie ihm geradeheraus ins Gesicht. Auch Laurie kümmerte sich um Jacobs Unterricht. Ich hielt sie für eine außergewöhnlich gute Lehrerin, sie war geduldig und freundlich. Ich hatte sie niemals beim Unterrichten beobachtet, aber als ich sie jetzt so mit Jacob sah, dachte ich: Sie sollte wirklich wieder mit dem Unterrichten anfangen, eigentlich hätte sie niemals damit aufhören sollen.
    Nach einigen Wochen schien Jacob sich mit dem neuen Leben in Zurückgezogenheit anzufreunden. Angeblich vermisste er seine Freunde und die Schule nicht. Vielleicht hätte ihm Heimunterricht von Anfang an besser getan. Er musste sich dann nur mit dem Teil der Schule beschäftigen, der ihn interessierte: dem Stoff (das waren seine Worte). Und er konnte die unzähligen alltäglichen Schwierigkeiten links liegen lassen: Mädchen, Sex, Sport, Mobbing, Druck von anderen, Cliquengehabe. Und wer hätte ihm das nach dem, was er durchgemacht hatte, verübeln wollen? Wenn wir Umzugspläne diskutierten, war Jacob stets Feuer und Flamme. Je weiter weg, desto besser. Bisbee in Arizona war seiner Meinung nach genau der richtige Ort. Das genau war Jacob – Haltung und Gelassenheit, ein bisschen sorglos, ein bisschen naiv. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber Jacob, für den bei dem Prozess am meisten auf dem Spiel stand, war niemals zusammengebrochen und hatte nie die Nerven verloren. Manchmal war er verärgert gewesen, hatte sich zurückgezogen, geschmollt oder sich selbst bemitleidet, wie alle Teenager. Aber er hatte durchgehalten. Jetzt, nachdem alles vorüber war, hatte er seine alte Ausgeglichenheit wiedergefunden. Man konnte sich leicht vorstellen, dass seine Schulkameraden diese fast unheimliche Selbstbeherrschung abstoßend finden konnten. Ich persönlich fand sie bewundernswert.
    Für eine Weile musste ich nicht arbeiten. Rein technisch betrachtet, war ich immer noch von der Staatsanwaltschaft beurlaubt. Mein Gehalt wurde immer noch jeden Monat auf mein Konto eingezahlt, so wie während dieser ganzen Zeit. Sicher war das für Lynn Canavan eine vertrackte Situation: Sie hatte auf das falsche Pferd gesetzt. Und jetzt hatte sie keinen Grund, mich zu feuern, denn ich hatte mir nichts zuschulden kommen lassen. Zugleich konnte sie mich nicht gut als Stellvertreter weiterbeschäftigen. Irgendwann würde sie mir eine alternative Stelle anbieten, die ich dann natürlich würde ablehnen müssen. Und damit wäre dann alles aus und vorbei. Aber in der näheren Zukunft schien sie mich weiter auf ihrer Gehaltsliste belassen zu wollen, und ich hatte im Gegenzug meinen Mund zu halten. Das war ein geringer Preis, und ich hätte ihn ohnehin gehalten, denn ich mochte sie gerne.
    In der Zwischenzeit hatte Canavan ganz andere, größere Sorgen. Sie musste sich überlegen, was sie mit Logiudice, ihrem Gerichtsrasputin, anfangen sollte. Die berufliche Niederlage hatte auch seine politischen Pläne platzen lassen, und wenn Lynn nicht vorsichtig war, gingen ihre ebenfalls den Bach hinunter. Andererseits konnte sie einen Staatsanwalt nicht gleich feuern, weil er einen Prozess verloren hatte, sonst würde niemand mehr für sie arbeiten wollen. Man nahm an, dass Canavan für das Amt des Attorney General oder sogar das Gouverneursamt kandidieren und ihrem Nachfolger die ganzen ungelösten Probleme überlassen würde. Doch in der Zwischenzeit blieb ihr nichts anderes übrig, als in aller Ruhe abzuwarten. Vielleicht konnte Logiudice seinen Ruf noch irgendwie retten. Man weiß ja nie.
    Ich machte mir über meine berufliche Zukunft einstweilen keine Gedanken. Als Staatsanwalt war ich erledigt. Ich hätte den Hohn nicht ertragen. Vielleicht würde ich