Verschwiegen: Thriller (German Edition)
verrückt.«
»Nein.« Sie sah mich mit einem flehenden Blick an, so als ob ich derjenige wäre, der sinnlos daherredete. »Wir müssen ehrlich zueinander sein, Andy. Wir müssen darüber nachdenken.«
»Warum? Der Prozess ist noch nicht einmal vorbei. Du gibst zu schnell auf.«
»Wir müssen darüber nachdenken, es geht um unseren Sohn. Er braucht unsere Hilfe.«
»Wir helfen ihm doch, wir helfen ihm, den Prozess zu überstehen.«
»Tun wir das?«
»Ja. Was sollen wir denn noch tun?«
»Und was, wenn er eine andere Form von Hilfe braucht, Andy?«
»Die gibt es nicht. Wovon redest du? Wir tun das Menschenmögliche, mehr geht nicht.«
»Und was, wenn er schuldig ist, Andy?«
»Du wirst sehen, das ist er nicht.«
Ihr Flüstern wurde noch intensiver. »Ich meine nicht das Urteil des Gerichts«, zischte sie, »ich rede von der Wahrheit. Was ist, wenn er in Wirklichkeit schuldig ist?«
»Ist er nicht.«
»Bist du davon wirklich überzeugt, Andy? Dass er es nicht war. Einfach so? Und du hast keine Zweifel?«
Ich fand keine Worte. Ich ertrug die Frage nicht.
»Andy, ich begreife dich nicht mehr. Du musst mit mir reden, Andy, du musst mir sagen, was in dir vorgeht.«
»Gar nichts«, antwortete ich, und die Aussage kam der Wahrheit näher als beabsichtigt.
»Manchmal möchte ich dich beim Kragen packen und die Wahrheit aus dir herausschütteln.«
»Fängst du wieder mit meinem Vater an?«
»Nein, darum geht es nicht. Ich rede von Jacob. Sag mir die Wahrheit, tu es für mich. Ich will sie wissen. Selbst wenn das bei dir anders ist, ich muss sie wissen: Glaubst du, dass Jacob es war?«
»Es gibt Dinge, die sollten Eltern niemals über ihre Kinder denken.«
»Danach habe ich nicht gefragt.«
»Er ist mein Sohn, Laurie.«
»Er ist unser Sohn, und wir sind für ihn verantwortlich.«
»Genau, das sind wir. Wir müssen ihm beistehen.« Ich legte meine Hand auf ihren Kopf und strich ihr über das Haar.
Sie wischte sie weg. »Nein! Begreifst du nicht, was ich sagen will, Andy? Wenn er schuldig ist, dann sind wir es auch. So ist das. Wir hängen mit drin. Wir haben ihn in die Welt gesetzt – du und ich. Wir haben ihn gemacht und hinaus ins Leben geschickt. Kannst du den Gedanken ertragen, dass er die Tat begangen hat? Geht das?«
»Wenn ich es muss.«
»Wirklich, Andy? Wirklich?«
»Ja. Schau, wenn er schuldig ist und wir den Prozess verlieren, dann müssen wir uns dem stellen. Wir sind dann immer noch seine Eltern, das können wir nicht ändern.«
»Du bist der unaufrichtigste und nervigste Mann, der mir jemals begegnet ist.«
»Warum?«
»Weil ich dich brauche und du dich verweigerst.«
»Nein.«
»Doch. Du bevormundest mich und redest in irgendwelchen Gemeinplätzen. Ich habe keine Ahnung, was hinter deiner Stirn und deinen netten braunen Augen vorgeht. Nicht die geringste.«
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. »Manchmal habe ich auch keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr, was ich denke. Ich versuche, gar nichts mehr zu denken.«
»Aber du musst dir Gedanken machen, Andy. Schau, was in dir vorgeht. Du bist sein Vater, dagegen kannst du nichts machen. War er’s? Ja oder nein?«
Sie drängte mich in Richtung dieser ungeheuerlich dunklen Vorstellung: Jacob, der Mörder. Ich fühlte ihre Nähe – und schrak zurück. Sie war zu gefährlich.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich.
»Aber du schließt es nicht aus.«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber es liegt im Bereich des Möglichen.«
»Laurie, ich weiß es nicht.«
Sie musterte mein Gesicht und suchte in meinem Blick etwas tröstlich Zuverlässiges. Ich setzte eine Miene der Entschlossenheit auf, aus der sie herauslesen konnte, was sie brauchte – Zuversicht, Liebe, Nähe, irgendwas. Aber die Wahrheit? Sicherheit? Das konnte ich nicht bieten. Da war ich die falsche Adresse.
Einige Stunden später, gegen ein Uhr morgens, war in der Ferne eine Polizeisirene zu hören. Das war ungewöhnlich, denn in unseren ruhigen Vorstadtstraßen lassen Polizei und Feuerwehr sie normalerweise ausgeschaltet und setzen nur ihr Blaulicht ein. Man hörte sie nur etwa fünf Sekunden lang, dann klang sie in der Stille aus. Hinter mir lag Laurie immer noch mit dem Rücken zu mir da. Ich ging zum Fenster, aber dort war nichts zu sehen. Erst am nächsten Morgen sollte ich herausfinden, woher die Sirene gekommen war, was sie bedeutete und wie sich alles ohne unser Wissen auf einen Schlag geändert hatte. Und dass wir schon in Argentinien waren.
Sechsunddreißigstes
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