Verschwiegen: Thriller (German Edition)
hat, ist eigentlich keine Frage, welche die Wissenschaft beantworten kann: Wir sind nicht in der Lage, ein Experiment zu entwerfen, das unser Bewusstsein erfasst, misst und reproduziert. Nach dem heutigen Stand des Wissens begreifen wir menschliches Handeln immer noch nicht, und das wird auch vermutlich so bleiben.«
Paul Heitz
»Neurocriminology and its Discontents«, American Journal of Criminology and Public Policy (Herbst 2008)
Siebenunddreißigstes Kapitel
Das Leben danach
Das Leben geht weiter. Wenn wir ehrlich sind, dauert es eigentlich viel zu lange. In einem langen Leben bringt man dreißig- bis fünfunddreißigtausend Tage hinter sich, aber nur ein paar Dutzend spielen wirklich eine Rolle. Das sind die großen Tage, an denen sich wichtige Dinge ereignen. Der Rest, die Mehrzahl, immerhin viele Tausende von Tagen, gleichen einander, sind ohne Bedeutung und reine Routine. Wir durchleben sie und vergessen sie dann fast auf der Stelle. Wenn wir auf unser Leben zurückschauen, dann machen wir uns diese Zahlen nicht klar. Wir denken an die paar großen Tage und vergessen den ganzen Rest. Wir teilen unser langes und unbedeutendes Leben in kleine, hübsche Geschichten ein, so wie ich das hier versuche. Aber in Wahrheit besteht es aus nichtigen, gewöhnlichen Tagen, die man gleich vergisst, und die meisten Katastrophen sind am Ende halb so schlimm.
Jacobs Freispruch war natürlich einer dieser großen Tage, aber danach ging es merkwürdigerweise mit den unbedeutenden Tagen weiter.
Unser Leben normalisierte sich nicht, denn wir hatten alle drei vergessen, wie das ging. Wenigstens machten wir uns nicht vor, dass wir eines Tages wieder ein normales Leben führen würden. In den Tagen und Wochen nach Jacobs Freilassung, als der Rausch der Begeisterung darüber nachließ, dass wir im Recht gewesen waren, verfielen wir in nüchterne Routine. Wir verließen unser Haus sehr selten und gingen, um den Blicken der Leute zu entgehen, so gut wie niemals aus. Ich übernahm den Einkauf, denn Laurie wollte nicht zufällig wieder den Rifkins über den Weg laufen. Und so plante ich bei meinen Hausfraueneinkäufen unser Wochenmenü (montags Nudeln, dienstags Hühnchen, mittwochs Hamburger …) Ein paar Male gingen wir ins Kino, zumeist um die Wochenmitte, weil dann die Kinos leerer waren. Und selbst dann stahlen wir uns erst in den Saal, wenn man die Beleuchtung herunterfuhr. Die meiste Zeit verbrachten wir zu Hause und surften stundenlang mit glasigen Augen und völlig weggetreten im Internet. Anstatt joggen zu gehen, begaben wir uns aufs Laufband im Keller. Wir sorgten für einen ausreichenden Vorrat an DVDs . Das alles klingt nicht sehr aufregend, aber im Rückblick war es eine schöne Zeit. Wir empfanden so etwas wie ein Gefühl von Freiheit.
Wir überlegten, ob wir umziehen sollten. Nicht gerade nach Buenos Aires, sondern an gewöhnlichere Orte – nach Florida, Kalifornien oder Wyoming. Irgendwohin, wo man von vorne anfangen konnte. Eine Weile schwirrte mir eine Kleinstadt in Arizona, Bisbee, im Kopf herum. Ich hatte gehört, dass es ein idealer Ort für einen Rückzug sei. Wir konnten auch ganz das Land verlassen, auch das hatte einen gewissen Reiz. Wir diskutierten unzählige Male darüber. Laurie hatte ihre Zweifel, dass wir dem Gerede über die Anklage entkommen konnten, egal, wie weit wir wegzogen. Und ihr Leben war einfach in Boston, sagte sie am Ende immer. Ich wäre gerne an einen anderen Ort gezogen. Ich hatte keine Wurzeln, und meine Heimat war da, wo auch Laurie war. Aber ich konnte mich nicht durchsetzen.
In Newton gab es immer noch Vorbehalte. Die meisten unserer Nachbarn hatten ihr Urteil gefällt: nicht schuldig, aber auch nicht unschuldig. Vielleicht hatte Jacob Ben Rifkin wirklich nicht ermordet, aber sie hatten genug über ihn erfahren, um ihm nicht über den Weg zu trauen. Da waren das Messer, seine Gewaltfantasien und seine kriminellen Vorfahren. Einigen kam auch das abrupte Prozessende verdächtig vor. Jacobs Anwesenheit störte die Leute, sie machten sich Gedanken. Selbst Wohlgesonnene wollten Jacob nicht unbedingt in der Nähe ihrer eigenen Kinder wissen. Warum etwas riskieren? Auch wenn sie zu neunundneunzig Prozent an seine Unschuld glaubten, stand für sie zu viel auf dem Spiel. Und wer wollte schon gerne mit ihm gesehen werden? Er war ein Ausgestoßener, ob er nun schuldig war oder nicht.
Vor diesem Hintergrund wagten wir es nicht, Jacob wieder in seine alte Schule zu schicken. Unmittelbar nach
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