Verschwiegen: Thriller (German Edition)
einen anderen juristischen Beruf ergreifen. Mir blieb immer noch die Verteidigung, da wäre die Verbindung zu Jacobs Anklage vielleicht sogar von Vorteil gewesen – das Drama eines unschuldigen Jungen, David gegen Goliath oder etwas Ähnliches. Aber es war etwas spät, um die Seiten zu wechseln. Ich war nicht sicher, ob ich Lust hatte, die Mistkerle zu verteidigen, die ich mein Leben lang hinter Gitter hatte bringen wollen. Was blieb mir dann noch? Eine Art Warteschleife, so wie dem Rest meiner Familie.
Laurie hatte der Prozess von uns dreien am meisten zugesetzt. In den nachfolgenden Wochen erholte sie sich ein bisschen, aber sie war nicht mehr die Alte. Sie legte die fehlenden Kilos nicht wieder zu, und ihr Gesicht wirkte auf mich immer angespannt. Es war, als wäre sie in den wenigen Monaten um zehn Jahre gealtert. In jenen ersten Wochen nach Jacobs Schwierigkeiten hatte ihre Haltung etwas Distanziertes, Kühles. Sie war auf der Hut. Mir erschien diese neue, vorsichtigere Haltung nur verständlich. Sie war zum Opfer geworden, und sie reagierte darauf wie ein Opfer. Damit veränderte sich die Dynamik innerhalb unserer Familie. Die Mom, die Jacob und mich und alle, die zur Familie gehörten, in warmen Worten aufforderte, uns mitzuteilen und über unsere Gefühle zu reden, gab es nicht mehr. Sie hatte sich von allem zurückgezogen, jedenfalls für eine bestimmte Zeit. Sie betrachtete uns aus einer gewissen Distanz, und ich konnte ihr das nicht wirklich übel nehmen. Auch ihr war jetzt Schmerz zugefügt worden, und damit wurde sie ein wenig wie ich: Sie wurde ein bisschen härter. Schmerz härtet uns alle. Sie auch, wenn er Sie trifft – und er wird Sie treffen.
Achtunddreißigstes Kapitel
Das Dilemma der Ermittler
Northern Correctional Institution,
Somers, Connecticut
Ich saß erneut in der Besucherzelle, wieder von weißen Wänden eingeschlossen, eine dicke Glasscheibe vor meiner Nase. Im Hintergrund ein konstanter Geräuschpegel: leise Stimmen aus den Nachbarzellen, aus der Ferne Rufe und Gefängniskrach, Lautsprecherankündigungen.
Bloody Billy schlurfte ans Fenster. Seine Handschellen waren an einer Hüftkette gesichert, eine zweite Kette lief nach unten zu seinen Fußfesseln. Trotzdem: Er kam herein wie ein tyrannischer König, das Kinn vorgereckt, ein hinterhältiges Grinsen im Gesicht, das graue Haar zurückgekämmt wie ein alter Zuhälter.
Zwei Wachen führten ihn zu dem Stuhl, ohne ihn auch nur zu berühren. Dann löste einer der beiden die Handschellen von der Kette an der Hüfte, und der andere sah ihm dabei zu. Darauf traten sie beide zurück und verschwanden aus meinem Blick.
Mein Vater nahm den Telefonhörer auf, legte die Hände unter dem Kinn zusammen wie beim Gebet und meinte: »Hallo, mein Junge!« Was für eine schöne Überraschung, schien sein Ton zu sagen.
»Warum hast du das getan?«
»Was?«
»Patz.«
Sein Blick wanderte von meinem Gesicht zu dem Wandtelefon und wieder zurück. Er wollte mich daran erinnern, nicht einfach so drauflos zu reden, denn die Leitung wurde überwacht.
»Wovon redest du, mein Junge? Ich war die ganze Zeit hier. Vielleicht weißt du’s noch nicht, aber ich komme nicht viel herum.«
Ich blätterte ein Strafregister auf, das sich auf mehrere Bundesstaaten erstreckte. Es war einige Seiten lang. Ich strich es mit der Hand glatt, hielt die erste Seite gegen die Scheibe und fuhr mit meinem Finger über den Namen: James Michael O’Leary, alias Jimmy, Jimmy-O, Father O’Leary, geboren am 28. Februar 1948.
Er lehnte sich nach vorne und las blinzelnd. »Kenne ich nicht.«
»Ach nein?«
»Nie von ihm gehört.«
»Er war eine Zeit lang hier.«
»Hier kommen eine Menge Leute durch.«
»Ihr habt hier sechs Jahre zusammen abgesessen, sechs Jahre!«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich misch mich nicht unters Volk. Das hier ist ein Gefängnis, kein Ponyhof. Wenn du vielleicht ein Bild hättest oder so was …« Er zwinkerte mir listig zu. »Nie von ihm gehört.«
»Er von dir schon.«
Wieder ein Achselzucken. »Von mir haben schon viele gehört, ich bin so was wie eine Legende.«
»Er hat mir erzählt, dass du ihn gebeten hast, ein Auge auf uns zu haben, vor allem auf Jacob.«
»Blödsinn.«
»Uns zu beschützen.«
»Blödsinn.«
»Du hast uns jemanden zum Aufpassen geschickt? Glaubst du im Ernst, dass ich dich brauche, um auf meinen Sohn aufzupassen?«
»Das sind alles deine Worte, du laberst hier die ganze Zeit. Ich kenne diesen Typen nicht, das habe
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