Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Freunde gewesen, wenn das gar nicht stimmt? Können wir nicht einfach ehrlich sein?
Als ich den Namen Jacob sah, hörte ich auf zu lesen, ich begriff, dass diese letzten bösartigen Nachrichten an meinen Sohn Jacob gerichtet waren. Auf diese Realität von Jacobs Alltag war ich nicht gefasst gewesen, auf die Komplexität seiner Beziehungen, die Schwierigkeiten, die er zu bewältigen hatte, auf die Brutalität der Welt, in der er sich bewegte. Ohne dich wäre die welt ein besserer ort . Wie kam es, dass jemand meinem Sohn so einen Satz an den Kopf warf und er uns gegenüber nichts erwähnte? Mit keiner Silbe? Ich war nicht von Jacob enttäuscht, sondern von mir selbst. Wie hatte ich bei meinem Sohn den Eindruck erwecken können, dass mir solche Dinge gleichgültig waren? Oder war ich einfach nur überängstlich und reagierte übertrieben auf den überspannten, überdrehten Ton im Internet?
Ganz ehrlich, ich kam mir vor wie ein Idiot. Ich hätte über all das im Bild sein müssen. Wenn Laurie und ich mit Jacob über das Internet redeten, dann immer sehr oberflächlich. Wir wussten, dass er online gehen konnte, wenn er sich abends in sein Zimmer zurückzog. Aber wir hatten eine Software auf seinem Computer installiert, die es ihm unmöglich machte, bestimmte Websites anzuklicken, das meiste davon Pornografisches, und wir hatten gedacht, das reiche aus. Facebook erschien uns keine besondere Bedrohung. Und außerdem wollten wir ihn nicht ausspionieren. Als Eltern glaubten wir daran, dass man sein Kind mit bestimmten Werten aufzieht, ihm später Raum lässt und seinem Verantwortungsgefühl vertraut, wenigstens solange es keinen Anlass für das Gegenteil liefert. Moderne, aufgeklärte Eltern hatten wir sein wollen, nicht Jacobs Gegner, die jede seiner Bewegungen beschatten und ihn bevormunden. Diese Einstellung wurde von den meisten Eltern an der Schule geteilt. Und welche Wahl hatten wir denn? Eltern sind nicht in der Lage, jeden Augenblick im Leben ihrer Kinder zu überwachen, egal ob on- oder offline. Am Ende führt jedes Kind sein eigenes Leben, und zwar zum größten Teil außerhalb elterlichen Zugriffs. Doch als ich die Worte »häng dich auf« las, wurde mir klar, wie naiv und dumm wir gewesen waren. Jacob brauchte unser Vertrauen und unseren Respekt, aber vor allem unseren Schutz, und genau den hatten wir ihm nicht gegeben.
Ich überflog die Nachrichten schneller, es waren hunderte, jede nur ein oder zwei Zeilen lang. Ich konnte sie nicht alle durchlesen, und ich hatte keine Ahnung, was ich Sarah Groehl zufolge finden sollte. In den älteren Nachrichten tauchte Jacob lange Zeit nicht auf. Die Kids trösteten einander in rührseligen Floskeln (»nichts wird mehr so sein wie vorher«) oder in harten (»die young, stay pretty«). Immer wieder Worte des Schreckens. Die Mädchen äußerten ihre Liebe und Loyalität, die Jungen ihre Wut. Ich durchsuchte diese endlose Abfolge von Wiederholungen nach einem brauchbaren Detail: »ich kann’s nicht fassen … wir müssen zusammenhalten … überall Polizei an der Schule …«
Am Ende klickte ich Jacobs Facebook-Seite an, die Zeit kurz nach dem Mord, als eine heftige Diskussion im Gange gewesen war. Wieder waren die Nachrichten in zeitlich rückläufiger Chronologie:
Marlie Kunitz (McCormick Middle School) schrieb am 15. April 2007 um 15:29:
D.Y.: Hör auf so etwas zu behaupten. Das ist nichts als dummes Zeug und kann jemand schaden. Auch wenn’s nur ein Witz sein soll, er ist blöd, Jake, ignorier ihn einfach.
Joe O’Connor (McCormick Middle School) schrieb am 15. April 2007 um 15:16:
Jeder sollte einfach seine Klappe halten, wenn er keine Ahnung hat, wovon er eigentlich redet. Das gilt für dich, Derek, du Blödmann. Das hier ist ernst. Halt den Rand und verpiss dich.
Mark Spicer (McCormick Middle School) schrieb am 15. April 2007 um 15:07:
Man kann alles über jeden behaupten. Hast du vielleicht auch ein Messer, Derek? Was meinst du, wie du dich fühlen würdest, wenn jemand über dich Gerüchte in die Welt setzt?
Und dann:
Derek Yoo (McCormick Middle School) schrieb am 15. April 2007 um 14:25:
Alle wissen, dass du es warst, Jake. Du hast ein Messer. Ich hab’s gesehen .
Ich erstarrte und konnte meine Augen nicht von der Nachricht abwenden. Ich starrte auf die Buchstaben, bis sie sich in Pixel auflösten. Derek Yoo war ein Freund von Jacob, ein enger Freund. Er war unzählige Male bei uns zu Besuch gewesen. Die beiden Jungen hatten zusammen den Kindergarten
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