Verschwiegen: Thriller (German Edition)
zuordnen, dass die Arbeitsbelastung gleichmäßig verteilt wurde; die Spreu vom Weizen trennen, indem sie widerstrebende Staatsanwälte und Angeklagte zu einer Einigung überredeten, und die tägliche Verwaltungsarbeit so effizient wie möglich abarbeiten. Es war ein hektischer Job: Fälle delegieren, Fälle abweisen, Fälle vertagen. Lourdes Rivera war um die fünfzig, eine aufgelöste Erscheinung und als Richterin mit der Aufgabe, alles im Plan zu halten, eine Fehlbesetzung. Sie hatte schon genug damit zu tun, rechtzeitig in Robe und mit abgeschaltetem Handy bei Gericht zu erscheinen. Die Anwälte verachteten sie. Man murmelte, dass sie den Job nur wegen ihres Aussehens oder der Ehe mit einem politisch gut vernetzten Anwalt bekommen habe, oder um die Latinoquote im Gericht anzuheben. Man nannte sie Rivera, das Rhinozeros. Aber für uns war sie die ideale Besetzung. Richterin Rivera war seit nicht einmal fünf Jahren beim Superior Court, aber bei der Staatsanwaltschaft hatte sie bereits den Ruf, eher aufseiten der Angeklagten zu stehen. Die meisten Richter in Cambridge genossen ebenfalls diesen Ruf: weich, sozialromantisch, liberal. Die Würfel fielen von Anfang zu unseren Gunsten, und das war nur richtig. Ein Liberaler ist ein Konservativer, der schon mal auf der Anklagebank gesessen ist.
Als der Gerichtsdiener Jacobs Fall aufrief (Nummer null-acht-Schrägstrich-vier-vier-null-sieben Staatsanwaltschaft gegen Jacob Michael Barber wegen Mordes) wurde Jacob von zwei Gerichtsdienern aus der Zelle in die Mitte des Saals vor die Geschworenenbank geführt. Er überflog mit seinem Blick die Menge, bemerkte uns und blickte sofort zu Boden. Vor lauter Verlegenheit begann er, an seinem Anzug und seiner Krawatte zu nesteln. Laurie hatte ihm den Anzug am Morgen noch mitgebracht, und Klein hatte ihn bei Jacob abgeliefert. Jacob war es nicht gewöhnt, einen Anzug zu tragen, und er kam sich offenbar elegant und gleichzeitig wie eingesperrt vor. Die Jacke war ihm zu klein. Man könne ihm nachts, wenn es im Haus still ist, beim Wachsen zuhören, hatte Laurie immer gescherzt. Jetzt fummelte er an seiner Jacke herum, aber sie war über den Schultern zu eng und wollte nicht sitzen. Später würden Journalisten wegen dieses Herumfiddelns behaupten, dass Jacob eitel sei, und dass ihm dieser Augenblick der allgemeinen Aufmerksamkeit gefallen habe. Nachdem das Verfahren begonnen hatte, würden wir diesen Unsinn immer wieder zu hören bekommen. Doch in Wahrheit war er einfach nur ein ungelenker Teenager und so voller Panik, dass er nicht wusste, wohin mit seinen Händen. Es war ein Wunder, dass er überhaupt mit Haltung dastand.
Jonathan durchschritt die Schwingtür zum Gericht, legte seine Tasche auf dem Tisch der Verteidigung ab und stellte sich neben Jacob. Er legte seine Hand auf Jacobs Rücken, nicht, um ihm etwas Gutes zu tun, sondern um zu sagen: Schaut her, dieser Junge ist kein Monster, ich habe keine Angst, ihn zu berühren. Und noch etwas: Ich stehe nicht einfach hier, weil ich dafür bezahlt werde, diesen Jungen zu verteidigen, sondern ich glaube an ihn. Ich bin sein Freund.
»Herr Staatsanwalt«, eröffnete Rivera, das Rhinozeros, die Sitzung. »Sie haben das Wort.«
Logiudice erhob sich am Tisch der Anklage. Er strich seine Krawatte glatt und zupfte dann mit einer Hand hinten an seiner Jacke. »Euer Ehren«, begann er mit trauervoller Stimme. »Ein scheußlicher Fall.« Er sprach das Wort gedehnt, und ich begriff, dass Gerichtssäle oft deswegen keine Fenster haben, damit man Leute davon abhält, Anwälte einfach hinauszuwerfen. Logiudice zählte noch einmal die Fakten auf, die mittlerweile jedermann aus den Nachrichten der vergangenen vierundzwanzig Stunden bekannt waren. Für die aufgebrachte Meute auf der anderen Seite der Kameras fügte er noch einige schmückende Details hinzu. Seine Stimme hatte etwas Gelangweiltes, als hätten wir das alles schon so oft gehört, dass es uns zu den Ohren herauskam.
Aber als es um die Freisetzung gegen Kaution ging, wurde Logiudices Tonfall nüchtern. »Wir alle kennen den Vater des Angeklagten, der ebenfalls hier anwesend ist, und wir alle schätzen ihn, Euer Ehren. Ich kenne diesen Mann persönlich. Ich empfinde Respekt und Bewunderung für ihn. Ich bin ihm verbunden, und wie wir alle hier empfinde ich Mitgefühl. Immer war er der Klügste unter uns, alles schien ihm zuzufliegen. Aber da ist dieses Aber.«
»Einspruch.«
»Stattgegeben.«
Logiudice wandte sich um und sah mich
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