Verschwiegen: Thriller (German Edition)
angeborenen Privilegien einfach so vermasselt hatte – doch zeigte sich nichts davon in ihrem Verhalten. Sie bestand auf der Anrede »Mister Barber«, und wann immer ich kam, erbot sie sich, mir den Mantel abzunehmen, so als ob jeder Hinweis auf nähere Bekanntschaft ihre neutrale Haltung untergraben würde.
Die andere Mitarbeiterin war Mrs. Wurtz, die die Buchhaltung machte, Telefonanrufe entgegennahm und die, wenn sie das ganze Chaos nicht mehr aushielt, Küche und Badezimmer schrubbte und dabei vor sich hin schimpfte. Sie war meiner Mutter unglaublich ähnlich.
Der schönste Raum der Kanzlei war die Bibliothek. Sie hatte einen offenen Kamin aus rotem Backstein und Regale, vollgestopft mit vertrauten alten Gesetzestexten: die honigfarbenen Rücken der Urteilssammlungen bundesstaatlicher Gerichte, die grünen Rücken der Revisionen in Massachusetts und die weinroten der alten bundesstaatlichen Verfahren.
Dort trafen wir uns am frühen Nachmittag, einige Stunden nach der Verlesung der Anklage gegen Jacob, um den Fall zu besprechen. Wir drei Barbers saßen mit Jonathan um einen alten runden Eichentisch. Auch Ellen war anwesend und machte sich auf einem gelben Block Notizen.
Jacob trug einen burgunderfarbenen Kapuzenpullover. Vorne war der Name einer Bekleidungsfirma aufgedruckt und der Umriss eines Rhinozeros. Als die Besprechung begann, fläzte er sich in seinen Stuhl, die Kapuze über den Kopf gezogen wie ein Druide. »Jacob, zieh die Kapuze herunter, zeig ein bisschen Respekt«, ermahnte ich ihn. Mit einer widerstrebenden Geste schob er die Kapuze zurück und saß dann geistesabwesend da, als ob die Besprechung nur uns Erwachsene anginge und für ihn uninteressant sei.
Wäre da nicht ihr verstörter Blick gewesen, hätte Laurie mit ihrer sexy Lehrerbrille und dem leichten Fleecepullover ausgesehen wie tausend andere Mütter in amerikanischen Vororten. Sie bat um einen eigenen Notizblock und machte sich bereit, neben Ellen eigene Aufzeichnungen zu machen. Laurie schien entschlossen, an ihrem Verstand festzuhalten – ihn einzusetzen, um aus dem Chaos herauszufinden und sogar in diesem völlig surrealen Albtraum einen klaren Kopf zu behalten, nüchtern zu bleiben. Vielleicht hätte sie es leichter gehabt, wenn sie sich nicht so engagiert hätte. In Situationen wie dieser haben es die Dummen und Aggressiven einfach: Sie hören auf zu denken und rüsten sich zum Kampf, vertrauen Experten und dem Schicksal, vollkommen überzeugt, dass am Ende alles gut wird. Doch Laurie war weder dumm noch aggressiv, und am Ende hat sie einen furchtbaren Preis bezahlt – aber ich greife vor. Sie so zu sehen, mit Notizblock und Stift, erinnerte mich an unsere Collegezeit, als Laurie etwas Streberhaftes hatte, wenigstens im Vergleich zu mir. Wir hatten nicht die gleichen Interessen: Ich mochte Geschichte, Laurie Psychologie, Englisch und Filme. Und wir wollten ohnehin nicht zu einem dieser schier unzertrennlichen Paare werden, die sich auf dem Campus bewegten wie siamesische Zwillinge. Den einzigen Kurs, den wir in vier Jahren miteinander besuchten, gleich im ersten Jahr, in dem wir ein Paar geworden waren, war Edmund Morgans Einführung in die amerikanische Frühgeschichte . Vor Prüfungen pflegte ich Lauries Heft zu klauen, um die Vorlesungen, die ich verpasst hatte, nachzulesen. Ich erinnere mich, wie ich ihre Aufzeichnungen anstarrte, seitenlange ordentliche Mitschriften von Vorlesungen, teilweise sogar Zitate. Sie gliederte die Vorträge in Haupt- und Untergedanken und merkte ihre eigenen Überlegungen an. Da gab es nur wenige jener Streichungen, Sternchen und Pfeile, die meine nachlässigen, hektischen und lächerlichen Aufzeichnungen ausmachten.
Das Heft mit Edmund Morgans Vorlesung war eine der Offenbarungen während unseres Kennenlernens. Mir wurde klar, dass sie wahrscheinlich intelligenter war als ich. Darauf war ich gefasst, ich kam aus einer Kleinstadt (Watertown, New York) und hatte durchaus erwartet, dass Yale vor intelligenten, weltgewandten Teenagern wie Laurie Gold wimmelte. Ich hatte mich mit der Lektüre von Salingers Geschichten und Filmen wie Love Story und The Paper Chase vorbereitet. Dass sie intelligent war, war also keine Offenbarung, wohl aber der Fakt, dass sie nicht zu begreifen war. Sie war bis ins Detail genauso komplex wie ich. Als Kind hatte ich immer geglaubt, dass es ein besonderes Drama sei, als Andy Barber durchs Leben zu gehen. Doch Laurie Gold hatte offenbar ebenso viele Geheimnisse und
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