Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Sorgen wie andere, sie würde für immer ein Geheimnis bleiben, wie alle Menschen. Ich konnte in sie eindringen, sie küssen, mit ihr reden, sie zu durchdringen versuchen, und doch würde ich sie nur oberflächlich kennen. Es ist eine kindische Einsicht, ich weiß – niemanden, dessen Bekanntschaft Freude macht, kennt man ganz und gar, und niemanden, den man gerne besitzen würde, kann man ganz und gar in Besitz nehmen – aber wir waren ja damals auch noch Kinder.
»Also«, begann Jonathan und blickte von seinen Akten auf. »Das hier ist nur das erste Paket von Neal Logiudice. Alles, was ich hier habe, ist die Anklageschrift und einige der Polizeiberichte. Wir haben also noch nicht alles, was die Staatsanwaltschaft an Beweisen in Händen hat. Aber wir haben ein allgemeines Bild von der Anklage gegen Jacob. So können wir anfangen und uns eine allgemeine Vorstellung davon machen, wie das Verfahren laufen wird. Wir können uns überlegen, was wir bis dahin tun können. Bevor wir anfangen, Jacob, möchte ich noch ein paar Dinge sagen, die besonders an dich gerichtet sind.«
»Okay.«
»Erstens: Du bist hier der Mandant. Das bedeutet, dass du die Entscheidungen triffst, soweit das möglich ist. Nicht deine Eltern, nicht ich, nicht irgendjemand anders. Das hier ist dein Fall. Du bist derjenige, der das Sagen hat. Hier wird nichts passieren, womit du nicht einverstanden bist. Okay?«
»Okay.«
»Falls du bestimmte Entscheidungen deinen Eltern oder mir überlassen willst, ist das völlig in Ordnung. Aber du sollst nicht den Eindruck haben, dass du bei deinem eigenen Fall nichts zu sagen hast. Das Gesetz behandelt dich wie einen Erwachsenen. Ob einem das gefällt oder nicht, die Gesetze des Bundesstaates Massachusetts sehen vor, dass es gleichgültig ist, ob du als Kind in deinem Alter oder als Erwachsener des vorsätzlichen Mordes angeklagt bist. Also werde ich mein Bestes tun, um dich wie einen Erwachsenen zu behandeln. Okay?«
» …kay«, antwortete Jacob.
Keine Silbe zu viel. Falls Jonathan sich Dank erwartete, hatte er den falschen Jungen vor sich.
»Und da ist noch was anderes: Ich möchte nicht, dass du dich völlig überfordert fühlst. Bei Fällen wie diesem gibt es immer einen Moment, wo man denkt, ach du Scheiße. Man hat die Anklage vor sich, man sieht all die Beweise, all die Leute, die mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten, man hört sich alles an, was der Staatsanwalt vor Gericht gegen einen vorbringt, und man verfällt in Panik. Man verliert jede Hoffnung und Zuversicht, und ganz tief in einem drin sagt eine Stimme ›ach du Scheiße‹! Das passiert jedes Mal, ich will, dass du das weißt. Wenn es bis jetzt noch nicht so war, dann wird es noch kommen. Und ich will, dass dir, wenn du diesen Gedanken hast, einfällt, dass wir hier in diesem Raum ausreichend Ressourcen haben, um den Fall zu gewinnen. Es gibt also keinen Grund zur Panik. Das Team des Staatsanwalts mag noch so groß sein, seine Argumente noch so überzeugend, unser Logiudice mag noch so zuversichtlich sein. Aber wir sind nicht von vornherein auf der schwächeren Seite. Wir müssen nur die Nerven behalten. Und wenn wir das machen, dann haben wir alles, um zu gewinnen. Glaubst du mir das?«
»Keine Ahnung. Ich glaube, nicht wirklich.«
»Egal, ich sage dir die Wahrheit.«
Jacobs Blick richtete sich nach unten.
Eine kurze Gefühlsregung, etwas wie Verstimmung und Enttäuschung, huschte über Jonathans Gesicht.
So viel also zum Versuch, Jacob Mut zu machen.
Er gab auf, setzte sich seine Brille mit den halben Gläsern auf und durchblätterte die Akten, die vor ihm lagen, das meiste Kopien von Polizeiberichten und die Klagebegründung, die er von Logiudice erhalten hatte und in der die wichtigsten Argumente der Staatsanwaltschaft aufgeführt waren. Ohne sein Jackett und nur in dem Rollkragenpullover, den er schon vor Gericht getragen hatte, wirkten Jonathans Schultern schmächtig.
»Es besteht offensichtlich die Theorie, dass Ben Rifkin dich gemobbt hat und du dir deswegen ein Messer besorgt hast. Bei passender Gelegenheit, oder auch als das Opfer dich einmal zu viel mobbte, hast du dich gerächt. Es scheint keine direkten Augenzeugen zu geben. Eine Frau, die im Cold Spring Park an jenem Morgen einen Spaziergang machte, will dich dort gesehen haben. Eine andere Spaziergängerin hat das Opfer gehört, als es rief: ›Hör auf, du tust mir weh.‹ Aber gesehen hat sie nichts. Und ein Mitschüler, das ist der Begriff, den Logiudice
Weitere Kostenlose Bücher