Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Grundstück stand. Einer der Vorbesitzer hatte einen Vorbau aus roten Ziegeln vor die Haustür setzen lassen, der aus der weißen Fassade hervorstach. Ich erinnere mich, wie wir uns immer alle in diesen kleinen Vorbau drängten, wenn Laurie und ich während der Wintermonate auf einen Besuch vorbeikamen. Jacob und Derek gingen damals auf die Grundschule. Wir waren mit den Yoos befreundet, wir waren mit allen Eltern von Jacobs Freunden befreundet. Wie Puzzlestücke ordneten wir einander zu – Väter zu Vätern, Mütter zu Müttern, Kinder zu Kindern, um die größtmögliche Übereinstimmung zu erzielen. Die Yoos passten nicht hundertprozentig – Derek hatte eine kleine Schwester namens Abigail, die drei Jahre jünger als die beiden Jungs war – aber die Freundschaft zwischen uns war für eine gewisse Zeit einfach bequem. Dass wir einander dann immer seltener sahen, hatte nichts mit Absicht zu tun, sondern damit, dass die Kinder sich einfach weiterentwickelt hatten. Sie blieben jetzt unter sich, und wir waren nicht eng genug miteinander befreundet, um in Kontakt zu bleiben. Doch ich meinte, wir wären immer noch Freunde. Wie naiv von mir.
Als ich läutete, kam Derek an die Tür. Er erstarrte. Ungläubig sah er mich aus seinen großen, ausdruckslosen braunen Augen an, bis ich endlich sagte: »Derek, hallo.«
»Hallo, Andy.«
Die Yoo-Kinder hatten mich und Laurie immer mit unseren Vornamen angesprochen. Ich hatte mich niemals so recht daran gewöhnt, und unter diesen Umständen war mir diese Freizügigkeit noch unangenehmer.
»Kann ich kurz mit dir reden?«
Wieder schien Derek zu einer vernünftigen Antwort außerstande und starrte mich weiter an.
Aus der Küche kam die Stimme seines Vaters, David Yoo. »Wer ist da, Derek?«
»Alles in Ordnung«, besänftigte ich ihn. Seine Panik hatte etwas Komisches. Warum war er so außer sich? Wir hatten uns doch schon unzählige Male gesehen.
»Wer ist da, Derek?«
Ich hörte, wie in der Küche ein Stuhl zurückgeschoben wurde, und dann kam David Yoo in den Flur. Er legte eine Hand um den Nacken seines Sohnes und schob ihn sanft von der Tür weg. »Hallo, Andy.«
»David, hallo.«
»Können wir etwas für dich tun?«
»Ich wollte nur kurz mit Derek reden.«
»Worüber?«
»Über die Anklage, über das, was passiert ist. Ich bin auf der Suche nach dem Täter. Jacob ist unschuldig. Ich helfe bei den Vorbereitungen für das Verfahren.«
David nickte verständnisvoll.
Jetzt kam auch seine Frau Karen aus der Küche und begrüßte mich kurz. Die drei standen im Türrahmen wie für ein Familienporträt.
»Kann ich kurz reinkommen, David?«
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.«
»Warum nicht?«
»Wir sind auf der Zeugenliste, und wir sollen mit niemandem reden.«
»Das ist doch lächerlich. Wir sind hier in Amerika, und du kannst reden, mit wem du willst.«
»Der Staatsanwalt hat uns gesagt, wir sollten mit niemandem reden.«
»Logiudice?«
»Genau der.«
»Er meinte bestimmt Journalisten. Er wollte verhindern, dass ihr widersprüchliche Aussagen macht. Er hat dabei an das Kreuzverhör gedacht. Ich versuche die Wahr–«
»Das ist nicht das, was er uns gesagt hat, Andy. Er hat gesagt: Reden Sie mit niemandem.«
»Aber das kann er nicht. Niemand kann euch das verbieten.«
»Tut mir leid.«
»Das ist mein Sohn, David. Du kennst Jacob von klein auf.«
»Es tut mir wirklich leid.«
»Darf ich wenigstens hereinkommen, und wir können über alles reden?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein.«
Unsere Blicke hielten einander stand.
»Wir unterhalten uns gerade über Familienangelegenheiten. Mir gefällt nicht, dass du hier vor unserer Tür stehst.«
Er wollte die Haustür schließen. Seine Frau hielt ihn zurück, indem sie die Hand an die Türkante legte und ihn bittend ansah.
»Bitte komm nicht noch mal zu uns«, fügte David hinzu. Und dann noch ein schwaches »viel Glück«.
Er nahm Karens Hand von der Tür und schloss sie sanft. Dann hörte ich, wie er die Kette vorlegte.
Sechzehntes Kapitel
Ein Zeuge
An der Wohnungstür der Magraths begrüßte mich eine plumpe Frau mit teigigem Gesicht und einer schwarzen Mähne. Sie trug schwarze Leggings und ein T-Shirt, das ihr viel zu groß war und auf dem vorne ein ebenso überdimensionales Logo prangte: »Spar dir deine Meinung, ich hab eine eigene.« Diese witzige Aufforderung erstreckte sich über sechs Zeilen und lenkte meinen Blick von ihrem ausladenden Busen hinab auf ihren Schwabbelbauch, kein
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