Verschwiegene Schuld
Wahrscheinlichkeit an[zu]wenden«, um das Buch zu widerlegen. 13 Der bekannte amerikanische Militärhistoriker Stephen E. Ambrose beschäftigte sich ebenfalls mit einem Buch über alliierte Missetaten und kam zu dem Schluß: »Wenn Wissenschaftler die entsprechenden Nachforschungen anstellen, werden sie feststellen, daß [dieses Buch] schlimmer als wertlos ist.« 14 Diesen namhaften Kritikern ist die Antwort bereits klar, bevor sie die Beweise in Augenschein genommen haben. Und genau hier setzt das schlechte Gewissen des Westens ein.
Denn vielen Westlern wird aus solcher Lobhudelei klar, daß der Mythos nur ein Mythos ist.
Am tiefgreifendsten und tragischsten wirkt sich diese geschlossene Haltung bei der Weigerung der westlichen Demokratien aus, das Schicksal der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen aufzunehmen. Diese Weigerung steht in völligem Widerspruch zu den Leistungen Hoovers, Tramans, Kings, Pattersons und vieler anderer, deren Werk der Barmherzigkeit daher im Westen weitgehend unbekannt geblieben ist. Aber sie fallt auch ganz entschieden in jene Reihe von Missetaten, die Adenauer 1949 rundweg verurteilte und die weiterhin »das schlechte Gewissen des Westens« belasten, besonders unter der Million oder mehr der Opfer, die noch am Leben sind. Am 23. März 1949, bei einer Rede im Parlamentssaal des Schweizerischen Bundesrates in Bern, verglich Konrad Adenauer die Vertreibungen mit den Untaten der Nazis und schloß:
»Die Austreibung beruht auf dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945. Ich bin überzeugt, daß die Weltgeschichte über dieses Dokument ein sehr hartes Urteil dereinst fallen wird .« 15
Der Ruhm des Marshallplans steht außer Frage und ist zweifellos verdient. Viele betrachten ihn jedoch als einen Akt »aufgeklärten Eigeninteresses«, da er vermeintlich auf einer zynischen Abwägung der Gefahr für die Vereinigten Staaten beruhte, falls Europa kommunistisch würde, und nicht auf dem Gedanken, daß ohne nordamerikanische Hilfe die Länder, Kulturen und Völker Europas zugrunde gegangen wären. Daß die Furcht vor dem Kommunismus nicht das vorrangige Motiv für den Marshallplan war, geht eindeutig aus der Tatsache hervor, daß die Kommunisten ebenfalls einbezogen werden sollten. Daß sie nicht mitmachten, war deren höchsteigene Schuld.
Die mangelnde Anerkennung des Werks der Barmherzigen geht wahrscheinlich zum Teil auf das gerechtfertigte starke Vertrauen des Westens in seine militärische Macht zurück. Es hört sich brutal an, aber es ist wahr, daß Westler oftmals mit Indifferenz reagieren, wenn ihre Kriegsführer die Ideale umstoßen, zu deren Verteidigung sie eingesetzt worden sind. Oder, noch absurder, in den Worten Trumans, der einmal sagte: »Ich will Frieden und bin bereit, dafür zu kämpfen.«
Wieder und wieder ist den Menschen im Westen eingetrichtert worden, ihre Tugend läge in ihren Siegen. Deshalb brachten sie es wahrscheinlich auch nicht fertig, den Deutschen zu verzeihen, obwohl ihr Glaube ihnen gebietet, ihren Feinden zu vergeben. Und dies könnte daran liegen, daß ihnen zu vergeben eines der stärksten Bande schwächen würde, das den Westen zusammenhält. Hier liegt noch einer der Gründe, warum der Westen ein schlechtes Gewissen hat: in dem Glauben, daß er sich selbst schaden würde, wenn er nach den eigenen hehren christlichen Grundsätzen lebte. Und wenn dem Westler mulmig zumute ist, dann kann er seine Tugend unter Beweis stellen, indem er seine Siege immer wieder aufzählt. Das ist nicht nur das Vergnügen an Fahnen und Fanfaren, das ist das Gefühl, daß Siege ihn zu dem machen, was er ist. Der Sieg ist seine größte Stunde.
Der Kampf zwischen Gut und Böse ist weder gewonnen noch verloren, noch ist er vorbei. Wie Solschenizyn schrieb, durchkreuzt der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, das Herz eines jeden Menschen und so auch jedes Land. In jedem von uns steckt das alte Mütterchen, die sich mit einer Gabe für den Gefangenen dem Stacheldrahtzaun nähert. Und in jedem von uns steckt der Soldat mit dem Finger am Abzug.
Anmerkungen
1 Conor Cruise O'Brien, On the Eve of the Millenium, S. 141 (Zitat aus einem früheren Aufsatz). (zurück)
2 Murphy an State Department, 12. Oktober 1945, FRUS 1945, Vol. 2, S.1290 f., zit. in: de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, S. 132. In England richtete Bertrand Russell empörte
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