Verschwörung beim Heurigen
Wein? Wie verträgt es der Mensch, wie der Boden?
Hier ging es nicht mehr nur um Technik und Methode, hier ging es auch um Zeit. Es dauerte Jahre, bis chemische Rückstände,
die mit Massenproduktion einhergingen, abgebaut waren. Abgebaut? Wohin? Umgewandelt? In was? Auf dieser Welt ging nichts verloren,
so lautete eines von Johannas Dogmen. Zumindest kam Abwärme dabei heraus. Für die Physik mochte das zutreffen – aber was war
mit der Liebe? In was verwandelte sich emotionale Wärme, wenn nichts verloren ging? In Gleichgültigkeit und Verachtung?
Von Purbach bis nach Mörbisch waren es zwanzig Kilometer, das reichte zum Aufwärmen. Kaum wurde Carl der stetige Rückenwind
bewusst, schweifte sein Blick zum See. Würde er Johanna in Mörbisch sehen? Er fürchtete sich vor einer weiteren Situation,
mit der er nicht umgehen konnte. Wer war dieser Mann, der Blonde, der sie morgens begrüßt hatte? Was war zwischen den beiden,
wovon er nicht wusste? Fünfzehn Jahre kannten sie sich, und in den letzten beiden Jahren waren sie sich zunehmend fremd geworden,
seit sie bei dieser verfluchten Firma arbeitete. Damit hatte alles angefangen. Sie hatten sie ihm weggenommen – und sich selbst.
Die Landstraße führte zwischen dem See und einem mit Wein bewachsenen Hang auf Mörbisch zu. Der Kirchturm war das höchste
Gebäude, Hotels und Gästehäuser hielten sich zurück, niemand wollte zu hoch hinaus, aber alles wirkte ein wenig bieder und
geharkt. Lag es an den vielen Geranien und am Oleander? – in der Masse wirkten sie erstickend. Außerdem haftete dem Ort etwas
Zurückgebliebenes |135| an, als wäre er vergessen worden. Carl schrieb es der nahen ungarischen Grenze zu, da war bis vor einigen Jahren die westliche
Welt zu Ende gewesen, inzwischen durften Radfahrer und Fußgänger von Frühjahr bis zum Herbst hinüber. Wenn die europäischen
Grenzen endgültig fielen, würde Mörbisch einen großen Impuls erhalten – zumindest mehr Durchgangsverkehr.
An der ersten Kreuzung ging es nach links zum Wasser, aber wenn er Marias Beschreibung richtig im Ohr hatte, musste er an
der dritten Kreuzung rechts abbiegen, den Hang hinauf und am Ende der Straße an einem schwarzund weiß gestrichenen Tor klingeln.
Er hörte den Summer und betrat den Hof, das Fahrrad neben sich herschiebend.
Karola Angermann pfiff die beiden Hunde zurück. »Ganz friedlich, die freuen sich über jeden. Bissige Hunde passen nicht zum
Image als Bio-Winzerin. Ein Paar Klischees braucht man, wenn ich schon nicht in der Latzhose rumlaufe. Dass Sie bei der Hitze
nicht tot vom Rad fallen, Carl – eine tolle Maschine«, sagte sie, neugierig das Rennrad bewundernd. »Gibt es was Neues, wegen
Maria? Sie brauchen bestimmt was zu trinken.«
Kurz darauf kam sie mit einer Flasche Wasser zurück. »Wir sollten uns zuerst meine Weingärten ansehen, es heißt, der Wein
entsteht im Weinberg, eigentlich entsteht er im Kopf, verstehen Sie? Als Vorstellung, als Idee – aber da lasse ich niemanden
reinsehen«, meinte sie lächelnd. »Ich muss nicht mein Fahrrad nehmen?«
»Jetzt haben Sie Vorurteile.« Das unkomplizierte Wesen von Marias Freundin war für Carl eine wahre Erholung in der Tristesse,
die sich mit Johannas Auftauchen nach der Verkostung vor dem Schloss Esterházy angekündigt hatte und mittlerweile zu einer
Katastrophe angewachsen war.
»Wir fahren sofort. Ein Fotograf aus Italien hat sich angekündigt – keine Sorge«, beschwichtigte sie ihn, »ich nehme |136| mir Zeit für Sie. Signor Gatow will Haus und Keller fotografieren, ein paar Aufnahmen von mir, ich müsste mich vorher allerdings
ein wenig zurechtmachen ... « Sie lächelte Verständnis heischend.
Carl wunderte sich, dass sie die Kellerei allein ließ und nicht einmal das Hoftor abschloss, als er zu ihr in den Geländewagen
stieg.
»Sie vergessen die Hunde, außerdem habe ich zwei erwachsene Söhne. Einer arbeitet momentan im Keller, der andere ist in Deutschland
unterwegs und besucht Weinhändler, so wie Maria das gemacht hat. Mal schauen, ob auch
er
jemanden mitbringt.« Sie lachte. »Maria haben Sie, soweit ich weiß, bei einer Präsentation kennen gelernt.«
Eine Frage oder eine Feststellung? Was hatte Maria ihr erzählt? Während die Winzerin durch den Ort fuhr, betrachtete er sie
von der Seite. Sie war bestimmt fünfzig, kleine Falten spielten um ihre Augen, das dunkel gelockte Haar machte sie jung, was
mit ihrem einnehmenden Wesen
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