Verschwörung in Florenz
Entsetzen weit aufgerissen, sie war kreidebleich und bebte am ganzen Körper. Sie sah aus, als wäre nicht ihr Sohn ins Zimmer getreten, sondern ein Dämon.
»Giacomo, wo …«
»Mutter!«, rief Giacomo und trat mit ausgebreiteten Armen auf Donna Lucia zu. Sie versuchte zurückzuweichen, doch er umarmte sie und küsste ihren Schleier. In seinen Armen sah die alte Frau noch kleiner und zerbrechlicher aus. »Mach dir jetzt keine Sorgen mehr, es wird alles wieder gut.«
»Was meinst du …«, keuchte Donna Lucia und versuchte sich aus seinen Armen zu befreien. »Ich will nicht …«
Doch Giacomo tat, als hätte er ihre Worte nicht gehört, und streichelte ihr zärtlich über den Kopf.
»So viele Sorgen hast du gehabt, so viel Ungemach ertragen. Aber bald ist es vorbei, Mutter, bald. Das verspreche ich dir.« Er warf Anne einen Blick zu. »Seit dem Tod meiner Schwester ist sie ein wenig verwirrt. Und seitdem es dem Volk von Florenz gefällt, die Ursache für alles Übel dieser Welt in der Familie Pazzi zu sehen, nimmt die Verwirrung ihres Geistes beinahe täglich zu. Manchmal erkennt sie mich nicht einmal mehr. Wahrscheinlich erinnert sie sich nicht daran, dass ich sie schon oft durch die Geheimtür besucht und sie mit Brot und Fleisch versorgt habe.« Donna Lucia begann zu weinen, und Giacomo wiegte sie tröstend in seinen Armen wie ein kleines Kind. »Ich weiß, wie schwer es für dich ist«, sagte er leise. Dann führte er sie zu ihrem Lehnstuhl und holte einen Krug und zwei Becher. Er goss Wein ein, kniete vor dem Stuhl nieder und hielt seiner Mutter den Becher an die Lippen. »Trink, Mutter, es wird dir helfen«, sagte er und streichelte liebevoll ihre Wangen. Und Donna Lucia trank, obwohl ihre Augen so groß und voller Angst waren wie die eines Kaninchens im Angesicht der Schlange. »So ist es gut. Bald wird es dir besser gehen. Du musst nicht mehr lange leiden.« Er erhob sich, trat zu Anne und reichte ihr den anderen Becher. »Trinkt, das wird Euch stärken, Signorina. Ich hoffe, meine Mutter hat Euch mit ihren verworrenen Geschichten nicht erschreckt?«
»Ich möchte nicht sagen, dass es sich um verworrene Geschichten handelt«, erwiderte Anne und nippte an dem Wein. Er tat wirklich gut. Er war würzig und gleichzeitig fruchtig, einer jener Weine, den man guten Gewissens als Lebenselixier bezeichnen konnte. Sie nahm einen großen Schluck. »Ich habe Euch nie davon erzählt, Giacomo, dass Giovanna mich am Tag nach Lorenzos Fest zu einer Unterredung in die Kapelle bat und mir dieses Tagebuch zeigen wollte. Leider hatte sie keine Gelegenheit mehr dazu, da sie starb. Weil ich glaubte, dass das Tagebuch der Grund für ihren Tod sein könnte, habe ich danach gesucht – allerdings ohne Erfolg. Donna Lucia war anscheinend klüger als ich, denn sie hat es gefunden. Es ist das Tagebuch von Giovannas und Giulianos Mörder. Co…« Cosimos Tagebuch hatte sie eigentlich sagen wollen, doch in diesem Moment fiel ihr Blick auf den Stickrahmen. Ein Stück Stoff war darauf gespannt, Stränge bunt gefärbter Wolle lagen darauf, als ob jemand daran weiterarbeiten wollte. Das Bild war erst halb fertig, allerdings konnte man anhand der Vorzeichnung erkennen, welches Motiv Giovanna für diesen Wandbehang geplant hatte. Eine junge Frau lag rücklings auf einem weißen Stier. Hinter ihr stand ein Mann, dessen ähnliche Gesichtszüge vermuten ließen, dass es sich um den Bruder der Frau handelte. Er hatte seine Hände um ihren Hals gelegt und drückte zu. Die Augen der Frau waren vor maßlosem Entsetzen geweitet, und das halb fertige Gesicht war von bläulicher Farbe. Erschauernd wich Anne einen Schritt zurück. Es war wieder eine Szene aus der Antike – Europa wurde von dem in einen Stier verwandelten Zeus entführt. Allerdings hatte diese Szene eine eigentümliche Interpretation, denn offensichtlich brachte Kadmos, der Bruder der Europa, seine Schwester nicht nach Hause, sondern erwürgte sie. Sie sah Donna Lucia an, die immer noch mit großen Augen und bleichen Wangen auf ihren Sohn starrte, und ihre Worte fielen ihr wieder ein: »… vielleicht sind die Geschichten ihrer Wandbehänge nicht verloren …« Dann glitt ihr Blick zu Giacomo. Und plötzlich wurde ihr alles klar. Die Wahrheit traf sie wie ein Blitz und ließ sie taumeln.
»Es ist gar nicht Cosimos Tagebuch«, stieß sie aus und klammerte sich mit beiden Händen am Bettpfosten fest. »Es ist …«
»Meins, richtig«, sagte Giacomo und streckte lächelnd seine
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