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Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)

Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)

Titel: Verschwundene Schätze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miklós Bánffy
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Sehr große, mattblaue Augen blickten hinter seiner riesigen Brille die Besucherin an. Sein Gesicht mündete in ein längliches Kinn, und der Mund darüber mutete eigenartig an: Die dünnen Lippen hielt er hart geschlossen, als bisse er gewaltsam auf die Zähne; tief eingekerbte Falten standen daneben. Doch in seiner Art, sich zu äußern, in seinem Benehmen gab es etwas magisch Gewinnendes; so auch in seinem Lächeln, das in seinem Antlitz jeden bitteren Zug der Enttäuschung auslöschte.
    Die Unruhe in Adriennes Gemüt legte sich gleich, sie fühlte sich beinahe heimisch, wie sie Dr. Kisch gegenübersaß. Auch das, was der Arzt zu sagen hatte, klang befreiend. Er sehe eigentlich keine Notwendigkeit, sich nach Almáskő zu begeben. Er komme aber der Aufforderung trotzdem gern nach. Vor allem deshalb, weil Absolon ihn darum bitte, sein guter Freund, bei dem er auf dem Land oft als Gast weile. Und vielleicht sei ein solcher Besuch auch klug. Er könnte dazu dienen, einer ernsthafteren seelischen Krise zuvorzukommen.
    Die Scheidung berührte er kaum, er glitt auf solche Weise darüber hinweg. Bei solchen Individuen, die bis zu einem gewissen Grad belastet seien, habe man mit Umsicht und Voraussicht vorzugehen.
    All das klang wunderbar beruhigend, und dies lag vielleicht nicht einmal an den Worten, eher an seiner Stimme, die zu streicheln schien. Er sprach in großen Zügen über die Häufigkeit von sonderbaren Verhaltensweisen. Viel mehr Menschen seien Sonderlinge, als man allgemein annehme. Er streifte seine Erfahrungen, Fälle, die einen viel schwerwiegenderen Eindruck gemacht hätten, und erwähnte geheime Erregungen, die sich leicht meistern ließen. Adrienne bemerkte gar nicht, dass seine Fragen Symptomen galten, Einzelheiten ihres Ehelebens, Dingen, die sie keinem anderen, nicht einmal Bálint je erzählt hatte.
    Dr. Kischs Verhörtechnik war so vollkommen, er wusste sich aus so wenigen Worten ein Bild zu machen und glitt mit solch feinem Taktgefühl von einem Thema zum anderen, als handle es sich lediglich um eine Salonkonversation. Die Frau verspürte keinerlei Hemmungen. Lange sprachen sie auf diese Weise.
    Der Arzt erhob sich schließlich – seine großgewachsene Gestalt wurde durch den weißen Kittel erst noch übertrieben ins Riesenhafte gesteigert – und begleitete Adrienne hinüber in den »Warteraum«, wo Absolon mit heiterer Gleichgültigkeit seine Zigarre rauchte. Hier einigten sie sich auf das weitere Programm.
    Dr. Kisch werde sich erst in der zweiten Juni-Hälfte nach Almáskő begeben können, vorher sei es ihm nicht möglich, Urlaub zu nehmen. Nein, er werde nicht mit der Kutsche fahren, sondern zu Fuß über die Berge kommen, zufällig dort auftauchen. Er sei ohnehin ein leidenschaftlicher Berggänger, das Gebirge hier in der Umgebung habe er auch schon durchwandert. »Es wird mir eine Erholung sein« 80 , sagte er, und das klang so, als würde man mit seinem Besuch ihm selber einen Dienst erweisen. »Psychopathische Probleme haben mich immer sehr interessiert.« 81 Dies war die einzige Anspielung auf seine Vergangenheit, auf seine Laufbahn, auf die er hatte verzichten, auf alles, das er bei seiner Heimkehr hatte opfern müssen. Erst da schlossen sich hart seine Lippen. Doch dies dauerte nur einen Augenblick, und er setzte seine freundlichen Reden gleich fort: »Ich komme, sobald ich kann. Ich gebe Ihnen Bescheid …« 82
    Er begleitete sie zum Wagen. Dort richtete er noch einige ermunternde Worte an die beiden und kehrte dann mit seinen ruhigen Schritten zurück in das kleine Krankenhaus, seine einzige, lebenslängliche Wirkungsstätte anstelle des weltberühmten Lehrstuhls. Die germanische »Mannestreue« 83 gehört nicht den mittelalterlichen Rittern allein; in der grauen Unauffälligkeit des bürgerlichen Lebens kann sie zum Preis der Selbstaufopferung ebenso heldenhaft sein.

    Die Falben trabten gutgelaunt. Das Riemenpferd schüttelte manchmal den Kopf, als wolle es die anderen ermuntern, während das Handpferd bei den steilen Strecken aufwärts die Stirn immer wieder hochwarf, vielleicht um durch die gedehnten Nüstern noch mehr Luft zu holen. Die Stangenpferde legten sich in solchen Momenten pflichtbewusst ins Zeug. In gleichem Tempo ging es bergan und bergab. Die Pferde gerieten nicht einmal in Schweiß. Ihr Fell glänzte wie Seide, die Sonnenstrahlen glitten darüber hinweg.
    Adrienne vermochte diesmal die Frühlingslandschaft zu genießen. Die Fahrt ging nun schon durch die bekannten

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