Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Dr. Kisch dagegen kann er nichts wissen. Es wäre uns möglich, ihn als einen Touristen hinzubringen, der eine Wanderung unternimmt. In seinen freien Stunden sammelt Kisch ohnehin Schmetterlinge, da kann er zufällig auch in Almáskő vorbeikommen.«
Die Frau antwortete nicht. Das, was sie hinter den Worten des alten Herrn zu spüren meinte, hatte sie stutzig gemacht: die Vorstellung, dass ihr Mann wegen eines Nervenleidens behandelt werden sollte. Zwar hielt sie Uzdy schon seit Jahren für abnormal, doch daran, dass sich ein Psychiater mit ihm befassen, dass er geisteskrank werden könnte, hatte sie nie gedacht. Zum ersten Mal fiel ihr dies jetzt ein, und ein leiser Schrecken durchzuckte sie. Dann wäre sie ewig an ihn gekettet!
Absolon, als ahne er die Gedanken der Frau, sagte beruhigend: »Das ist nur so eine Vorsichtsmaßnahme meinerseits. Ich befürworte sie einzig, um das, was Sie mir in Auftrag gegeben haben, möglichst rasch und ohne jede Reibung durchzubringen.«
»Nun gut«, antwortete Adrienne. »Ich folge in allem gern Ihrem Rat.«
Als sie sich der Stadt näherten, holten sie Absolons Gespann ein, das schon bei Tagesanbruch in Borbáthjó abgefahren war. Vier kleine, vorzüglich genährte und glattgebürstete Pferde, Tiere, deren dichte Mähnen und gewellte Schweife man in die Länge hatte wachsen lassen, zogen den niedrigen Leiterwagen. Der Kutscher wie der Diener auf dem Bock trugen Tuchmäntel, denn bei Absolon hatten die Diener, ob sie innerhalb oder außerhalb des Hauses eingesetzt waren, statt Livree Bauernkleider anzuziehen. Ob äußerlich vornehm oder nicht, war ihm herzlich gleichgültig.
Als sie den anderen Wagen überholten, rief Absolon hinüber: »Fahrt zum Weißen Lamm und spannt dort aus!« Und dann ging es schnell über die Maros-Brücke.
Hernach fuhren sie in die Stadt hinauf und durchquerten sie auf dem entsetzlichen Steinbelag, dem schlechtesten im ganzen Land, bis sie am anderen Ende anlangten. Dort stand auf einem höheren Hügel das Krankenhaus.
Es war ein hübscher Bau. »Städtisches Krankenhaus« hieß es auf der Hauptfassade mit großen schwarzen Buchstaben. Auch im Inneren war alles ausschließlich auf Deutsch beschriftet. Der bereits unterrichtete Portier bat die Ankömmlinge in ein »Warteraum« genanntes Zimmer. Hier befand sich eine kleine Tür, weiß wie die ganze Umgebung, und eine daran befestigte Tafel verkündete: »Ordinations-Zimmer des Oberarztes«. 78
Ein Assistenzarzt stieß bald zu ihnen, der Absolon zu seinem Vorgesetzten hineingeleitete. Adrienne blieb allein. Grundlose Angst beklemmte sie. Nicht dass ein solcher Spitalraum ihr unvertraut gewesen wäre. Während der langwierigen Krankheit der Mutter und beim Zusammenbruch Judiths, ihrer Schwester, hatte sie ja viele Stunden in Sanatorien verbracht. Damals war diese gleichermaßen unwirtliche, sozusagen sterile Umgebung auf sie ohne jede besondere Wirkung geblieben. Sie hatte darauf gar nicht geachtet, sie fand die Einrichtung natürlich; auch Instrumente oder Maschinen werden gemäß ihrer Zweckbestimmung gestaltet. Jetzt aber schienen die schneeweißen Wände etwas Bedrohliches auszustrahlen.
Sie empfand es als eine neue und beängstigende Wendung, dass sie in der Frage der Scheidung so weit gekommen war: Der Bruch mit ihrem Mann war nun keine emotionale oder rechtliche Angelegenheit mehr, es ging nicht darum, BA zu beschützen, der Fall wurde vielmehr zu einem Gegenstand medizinischer Beratungen. Sie vermochte nicht, ruhig zu warten. Sie trat ans Fenster. Doch die prächtige Aussicht über den Dächern der Kleinstadt nahm sie nicht wahr; sie sah nicht das sich ausbreitende Bild des Maros-Tals, wie es in der dunstigen Unendlichkeit mit dem tiefblauen Himmel verschmolz, nicht die glänzende Frühlingssonne, das frische Laub, die sich entfaltenden Kastanienblüten – sie gewahrte nichts. Ihr schien, sie stehe im Dunkel oder sei erblindet. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einer einzigen Frage: Worüber mochten sich Absolon und der Oberarzt so endlos unterhalten?
Dabei dauerte das Gespräch gar nicht lange. Die mit Wachstuch gepolsterte Tür öffnete sich, und sie vernahm eine angenehme Stimme. »Darf ich Sie bitten, gnädige Frau …« 79
Wolf Hermann Kisch hatte sie hineingerufen. Absolon ließ die beiden allein.
Dr. Kisch war ein außerordentlich großgewachsener Mann mit kräftig hervortretenden Knochen. Er hatte beinahe Uzdys Statur. Er war ganz kahlköpfig, obwohl noch keine vierzig Jahre alt.
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