Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
hergebracht. Das war zwar ziemlich umständlich, aber Addy hatte dazu den Befehl gegeben, denn auf der Siebenbürger Heide findet sich nicht ein Körnchen Sand, von dem aber das Wohlergehen des Geflügels abhängt. Irgendeine Seuche hatte unter den Hühnern schon einmal um sich gegriffen, und Judith weinte deswegen tagelang. Zwischen dem Drahtzaun und den verholzten Fliedersträuchern führte nur ein enger Pfad hindurch. Adrienne und Bálint schritten hier hintereinander. An dieser Stelle erblickte Abády jetzt Judith, die er seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Sie saß auf dem Boden. Um den Kopf ein schwarzes Tuch, bäuerlich unter dem Kinn gebunden. Über ihrem Kleid trug sie eine breite, blaue Leinenschürze, ganz verschmiert vom weißen Mist, der vom Meierhof stammte. Auch ihre Hände waren schmutzig. Eine Stange, das Abkratzeisen, mit dem sie gerade den Boden der Käfige gereinigt hatte, lag neben ihr. Die Kaninchen hatten ihre Salatblätter bereits erhalten und schmatzten unmittelbar neben ihrem Rock. Sie gab jetzt dem Federvieh zu fressen. Die Hähnchen und die Hühner drängten sich hinter einer Bretterwand. Sie streute manchmal eine Handvoll Körner aus; mit der anderen Hand aber fütterte sie ein verkrüppeltes Huhn, das mit einem lahmen Fuß geboren war, vielleicht weil die Henne, die es ausbrütete, in ihrer Zerstreutheit versäumt hatte, gerade dieses eine Ei rechtzeitig zu wenden. Als es schlüpfte, war sein linkes Bein kürzer. Dieser kleine Krüppel war Judiths Liebling. Die anderen Hühner hätten es verjagt, und so hielt sie es im Schoß.
»Iss, Kleines, iss, hier tut dir niemand etwas zuleide, nicht wahr, es schmeckt, gelt, es ist fein? … Iss, Kleines, iss …«
Sie sprach nur zu ihren Tieren, mit den Menschen wechselte sie wochenlang kein Wort. Die alte Bäuerin, die Judith pflegte, stand in der offenen Zimmertür. Als Adrienne jenseits des Zauns vorbeiging, grüßte sie: »Küss die Hand!«
Judith hob den Blick. Sie sah Adrienne gleichgültig an. Dann irrte ihr Auge zu Abády hinüber. Dieser lüftete den Hut.
Die Miene des Mädchens verzerrte sich. Schreckhafte Überraschung riss ihre Lider auf, als hätte sie eine grässliche Vision. Ihre dünn geschwungenen Lippen öffneten sich, sie ließ die Hände jäh sinken, der Oberkörper richtete sich auf. So verfolgte sie während einiger Augenblicke den Mann. Vielleicht war in ihr ungewiss die Erinnerung an jenen tragischen Morgen erwacht, an dem sie Abádys Gesicht zum letzten Mal gesehen hatte.
Bálint dachte an dasselbe: an die Minute, in der er damals im Bahnhof von Klausenburg das junge Mädchen erblickt hatte; sie wartete im dunklen Wartezimmer auf ihren Liebhaber, jenen unwürdigen Wickwitz, mit dem sie heimlich nach Österreich reisen wollte, der aber schon am Abend zuvor über die Grenze geflüchtet war und dem armen Mädchen keinen Bescheid gegeben, sie nicht einmal dieser Beachtung wert gefunden hatte. Bálint vergegenwärtigte sich, wie er vor der Abfahrt des Budapester Schnellzugs zu ihr getreten war, um ihr zu sagen, sie warte vergeblich; wie er sie nach Hause gebracht hatte, als wäre sie ein verwundeter, eingefangener Waldvogel. Ihre Augen wirkten jetzt plötzlich so wie damals während der Kutschfahrt. Doch es war einzig ein kurzes Flackern. Dann wurde ihr Blick wieder leer, als wäre sie blind, sie wurde, wie sie nach ihrer zweiten, noch schmerzlicheren Enttäuschung geworden war, nach dem letzten, dem endgültigen Schlag – damals, als sie von einer unbekannten Frau die Briefe zugestellt erhielt, die sie jenem Mann geschrieben hatte …
Hier, hinter dem Landhaus der Milóths, also fristete dieses arme Mädchen nun ihr Leben: wie ein Gespenst ihrer selbst, wie eine lebendige Tote. Ihr Gesicht, obwohl blasser und dünn, wirkte immer noch schön, ihr Blick allerdings war der eines staunenden Tiers.
Adrienne und Bálint setzten ihren Weg noch lange wortlos fort. Die Begegnung mit Judith hatte ihre Laune getrübt. Sie befanden sich schon seit einer guten Weile im unteren Obstgarten, als Bálint die Stille brach und – wie dies so oft geschah – das aussprach, worüber sich die Freundin eben auch Gedanken machte: »Schon seit dem Besuch in Almáskő grüble ich über etwas. Wenn Uzdy durch diese neue Verrücktheit so sehr in Anspruch genommen wird, sodass er … ja, sodass er nicht mehr … nicht mehr dermaßen an dir hängt … sag, wäre dann die Scheidung nicht möglich?«
Die Frau antwortete langsam:
Weitere Kostenlose Bücher