Verseucht - Endzeit-Thriller (German Edition)
meine.«
Alle Augen waren plötzlich auf mich gerichtet. Besonders aufmerksam beobachtete mich Mickey. Ich wusste, dass entweder Texas oder Carl sie eingeweiht, sprich: ihr von der ganzen Sache mit dem Schattengebilde erzählt hatte. Das war ja auch in Ordnung. Sie wusste jetzt, was wir alle wussten und begriffen hatten. Wie Diebe gingen wir miteinander durch dick und dünn, zusammengeschweißt durch unser schmutziges kleines Geheimnis.
»Nash«, sagte Carl.
Ich sah zu ihm hinüber. Er hatte die Kalaschnikow gezückt.
»Jemand ist da draußen bei den Bäumen.«
»Er hat recht«, meinte Mickey.
»Wenn das böse Menschen wären, hätten sie schon angegriffen«, erwiderte ich. »Lasst uns mal davon ausgehen, dass sie uns freundlich gesinnt sind und nur Gesellschaft brauchen.«
Während wir abwarteten, summten ein paar Insekten herum und in der Ferne heulte tieftraurig ein Kojote.
Carl schlich vom Feuer weg und nahm am Jeep Schussposition ein. Wir anderen blieben, wo wir waren. Ich hörte, wie ein Zweig knackte, und sah, wie ein Schatten hinter einen Baum glitt. »Du da draußen«, rief ich. »Komm rüber. Wir tun dir nichts. Wir haben Kaffee und was zu essen. Du kannst dich gern bedienen.«
Stille.
Schließlich kam der Schatten hinter dem Baum hervor und ging fast schüchtern auf das Feuer zu. Es war eine Frau in den Vierzigern, aber so zerlumpt und verdreckt, dass sie völlig heruntergekommen aussah. Ich fragte mich, wer und wie sie gewesen sein mochte, ehe die Bomben fielen.
»Du kannst dich gerne an unseren Vorräten bedienen«, sagte ich.
Daraufhin kam sie näher.
Mickey durchschaute, was ich tat, und lächelte mich im Feuerschein an.
25
Die Frau genoss unseren Kaffee und das dürftige Essen sichtlich. Sie aß wie ein Tier mit den Fingern und beobachtete uns dabei so argwöhnisch, als könnten wir ihr das Essen jederzeit wieder wegnehmen. Als ich schon dachte, sie müsse wohl eine Taubstumme sein, erklärte sie: »Ronny bekam die Pocken und danach irgendeine schreckliche Fieberkrankheit. Aus seinen Augen spritzte Blut. Ich glaube, er hat auch Teile seiner Eingeweide ausgekotzt. Sah jedenfalls so aus.« Sie schüttelte den Kopf. Sie sprach sehr sachlich darüber, so als könnte diese wirklich entsetzliche Geschichte sie mittlerweile nicht mehr schockieren. »Ronny wollte nicht verbrannt werden. Dauernd sagte er: Du darfst nicht zulassen, dass sie mich verbrennen, Marilynn. Aber ich hatte keine Wahl. Die Armee hat’s angeordnet, also mussten wir ihn zu den anderen auf den Scheiterhaufen legen. Man hat uns dazu gezwungen. Er wurde in der Grube verbrannt. Zusammen mit Tausenden anderen. Man konnte den Geruch bis nach Beloit riechen.«
»Woher stammst du, Marilynn?«, fragte Janie.
»Aus Janesville in Wisconsin. Hab dort mein Leben lang gewohnt. Aber dann hat die Armee einen Häuserblock nach dem anderen geräumt und uns in ein Lager verfrachtet. In so eins wie diese deutschen Lager im Weltkrieg, wo sie die Juden einsperrten. Wir haben in kleinen Holzbaracken gewohnt. Ringsum Stacheldraht – wir konnten nicht weg, das war verboten. Viele von uns wollten nicht ins Lager und haben sich dagegen gewehrt. Zum Beispiel Sheila Reed. Als ihr Mann gestorben ist, hat sie den Leichnam versteckt. Sheila war Abteilungsleiterin in einer Filiale von Rite Aid, der Drogeriekette. Angefangen hatte sie als Kassiererin, aber sie hat ihrem Chef in einer Abstellkammer jeden Tag einen geblasen, wie es hieß, deshalb wurde sie befördert. Wirklich verrückt von ihr, den Leichnam zu verstecken. Als die Soldaten kamen, hat sie auf sie geschossen. Daraufhin haben die Soldaten sie einfach abgeknallt, auf die Straße geschmissen und dort liegen lassen.«
Sie sah sich um, als merkte sie erst jetzt, dass wir auch noch da waren. »Wohin wollt ihr mit dem Jeep?«
»Nach Westen«, sagte Carl.
Marilynn riss freudig die Augen auf. »Nach Westen, sagst du? Hab gehört, dass jetzt viele Leute nach Westen ziehen. Seltsam. Und wohin im Westen?«
»Nach Des Moines.«
»Da sieht’s furchtbar aus. Ich war vor zwei Monaten dort, dahin will ich nicht zurück.«
»Was geht dort vor sich, meine Liebe?«, fragte Texas Slim.
»Habt ihr das denn nicht gehört? Die halbe Stadt ist ausgebrannt, und der Rest liegt in Trümmern. Die Luftwaffe hat Des Moines bombardiert, um die Milizen auszuheben. Da gibt’s nur noch Ratten, Leichen, große Bombenkrater und eingestürzte Gebäude. Ich bin dort gewesen und weiß es. Überall nur Gebeine. Und jede
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