Verseucht - Endzeit-Thriller (German Edition)
mich innerlich. Aus meinen Träumen schrak ich schweißgebadet hoch. Sie waren verstörend und gottverdammt hässlich, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. In diesen Träumen stellten sich Menschen in einer Reihe auf – mir bekannte und unbekannte Menschen, Menschen, die ich bewunderte, und ja, sogar Menschen, die ich liebte –, und alle warteten auf meine Entscheidung, wer leben und wer sterben sollte. Wenn ich erwachte, sah ich immer noch ihre anklagenden und hasserfüllten Blicke vor mir. Ich fühlte mich wie ein KZ-Aufseher in Birkenau oder Treblinka, der zu entscheiden hatte, wer in den Gaskammern landen sollte und wer nicht. Glauben Sie etwa, es war leicht, damit zu leben? Dass mein Inneres ungeschoren davonkam?
Wenn man so etwas tut, wie ich es getan habe, büßt man zwangsläufig einen Teil seines Selbst ein. Und nachdem ich es ein ganzes Jahr lang getan hatte, konnte ich mich, ehrlich gesagt, nicht einmal mehr an den Menschen erinnern, der ich früher gewesen war.
Allerdings war ich kein Einzeltäter. Mein Trupp war beteiligt. Wir trugen eine gemeinsame Schuld. Und wie Soldaten, die schreckliche Kriegsverbrechen begangen haben, vermieden wir es, darüber zu reden. Das machte die Sache für uns leichter. Auf meinem Gewissen lasteten viele Gräber, und viele Gespenster versuchten sich mit ihren Klauen den Weg nach draußen, heraus aus den Gräbern, zu schaufeln, um mich zu verfolgen. Mein Gott, natürlich musste ich sie unter Kontrolle halten, egal wie.
2
Die Stadt war eine Kloake aus abgestandenem Wasser, Schutt und nicht bestatteten Leichen. Sie sah so aus, als wäre hier die Mutter aller Schlachten ausgefochten worden, und vielleicht traf das sogar zu. Die Gebäude waren zerstört und von den Bränden kohlschwarz, die Wolkenkratzer nur noch Schlackehaufen und die Bäume, jeglicher Zweige und Äste beraubt, standen wie einsame Masten da. Hier sang kein Vogel, wuchs keine Pflanze, bewegte sich nichts mehr. Der schwache Wind trug nur den penetranten, alles überlagernden, heimtückischen Gestank des Todes herüber. So mochte es in einem Grab riechen.
»Der Ort ist tot, völlig tot«, bemerkte Carl. »Riechst du das nicht?«
Natürlich roch ich es, erwähnte es aber nicht, genauso wenig wie die anderen. Allerdings spürten auch sie den Tod ringsum, und das machte ihnen zu schaffen. Die Stille im Jeep lastete schwer auf uns, drückte uns geradezu nieder. Alle warteten darauf, dass ich ihnen sagte, warum wir hier waren, oder zumindest eine bestimmte Richtung vorgab. Aber auch ich hatte nicht den kleinsten Anhaltspunkt, zu wem oder was wir unterwegs waren.
Wie in allen früheren Städten, auf jedem anderen urbanen Totenacker, kamen wir in Des Moines ohne bestimmtes Ziel an. Wir waren nur hier, weil ich es so bestimmt hatte. Und wenn selbst mir das zu wenig war, wie sollten sich meine Leute damit zufriedengeben?
Während wir die 94 entlangfuhren, dachte ich an Marilynn, obwohl sich alles in mir dagegen sträubte. Aber ich konnte nicht vergessen, was sie über Des Moines gesagt hatte: Da gibt’s nur noch Ratten, Leichen, große Bombenkrater und eingestürzte Gebäude.
Wie recht sie hatte! Und dennoch gab es hier noch etwas anderes, etwas Wichtiges – das sagte mir mein Bauchgefühl.
Die Stadt ringsum sah aus wie ein zerfallender exhumierter Leichnam. Ganze Viertel lagen aufgrund der Bombardierungen in Schutt und Asche, während andere überraschend unversehrt wirkten. Doch selbst die Straßenzüge, die noch standen, machten einen irgendwie trostlosen, unheimlichen Eindruck. Sie kamen mir so still und verloren vor wie auf dem Friedhof der Menschheit errichtete Monolithen. Bei manchen Gebäuden fehlten die Mauern, sodass man winzige Kammern erkennen konnte: Büros und Wohnungen, die an Teile eines Puppenhauses erinnerten. Bei einigen waren nur noch die verzogenen oder verbogenen Tragebalken zu erkennen, die jeden Moment herunterzustürzen drohten, bei anderen stand nur noch ein einzelner Schornstein oder eine Außenmauer. Viele Straßen waren von gezackten Rissen durchzogen, als wären sie aufgebrochen, und aus dem Pflaster ragten – wie Knochen bei einem komplizierten Bruch – Abwasserleitungen heraus.
Es war nicht leicht, den Wagen durch die Stadt zu manövrieren. Manche Straßen wurden völlig von Schutt und Trümmerhaufen blockiert oder waren sogar im Kanalisationsnetz versunken. Ich sah auch die riesigen Bombenkrater, von denen Marilynn erzählt hatte. Ähnlich wie die Krater auf der dunklen
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