Versprechen eines Sommers
schaffte, seinen Vater nicht zu erwähnen. Oder wirkte es eher seltsam, dass sie sich nicht nach ihm erkundigte? Sie wusste es nicht. Terry Davis war ein großer Faktor in Connors Leben gewesen, eine entscheidende Größe. Und um die beschämende Wahrheit zuzugeben: Olivia war ein Feigling. Sie hatte Angst, seine traurige Geschichte zu hören – dass sein Vater gestorben war. Sie wollte nicht hören, dass er sich schlussendlich zu Tode getrunken hatte. Sie hatte Angst vor Connors Traurigkeit, weil sie wusste, dass sie ihn nicht würde trösten können.
„Nun“, sagte sie abrupt. „Ich hoffe, Julian und du hattet eine ruhige Nacht.“
Er schloss die Tür zum Schuppen. „Ich hoffe nur, ich kann ihn diesen Sommer aus allem Ärger heraushalten.“
„Das hast du doch schon einmal geschafft“, rief sie ihm in Erinnerung. „In dem letzten Sommer, als wir …“ Schlechte Wortwahl. „Er hat dir als Kind echt was für dein Geld geboten, aber du hast es immer geschafft, ihm einen Schritt voraus zu sein.“
„Inzwischen kann er mich sehr wahrscheinlich mit Leichtigkeit überholen, aber ich versuche mein Bestes.“
Connor war ein Mensch, der sich um andere kümmerte. Das wusste sie bereits. So wie er aufgewachsen war, war sein Charakter im Schmelztiegel zwischen der Sauferei seines Vaters und der Vernachlässigung seiner Mutter geschmiedet worden. Manchmal fragte sich Olivia, was für ein Mensch er geworden wäre, wenn seine Eltern sich um ihn gekümmert hätten, anstatt ihn für sich selbst sorgen zu lassen. Dann dachte sie an andere Menschen, die sie kannte, die alle Fürsorge und Vorteile des Lebens genossen hatten. Viele von ihnen hatten die Gelegenheiten, die sich ihnen boten, in den Wind geschossen und waren die Treuhandfonds-Barbies geworden, deren Leben das Futter für die Klatschpresse bot.
„Wie läuft es zwischen dir und Julian?“, fragte sie.
„Wir kennen einander kaum. Er ist nicht zu erpicht darauf, Anweisungen von mir anzunehmen.“
„Und was denkst du über ihn?“
„Er will nicht hier sein, und er benimmt sich wie ein kleines Arschloch.“
Sie senkte den Kopf, um ihr Lächeln zu verbergen.
„Was?“ Ihm war ihr Amüsement nicht entgangen.
„Es ist gut, dass du ehrlich bist. Ich hatte befürchtet, du könntest zu samariterhaft sein.“
„Das war nie mein Problem. Aber Julian gehört zur Familie. Ich war elf Jahre alt, als er geboren wurde, und er war das Beste, was mir je passiert ist. Sechs Monate lang durfte ich ein Bruder sein. Dann ist er weggeschickt worden, um bei seinem Dad zu leben, und alles war vorbei, einfach so. Niemand hat mich vorgewarnt, und Gott weiß, dass niemand mit mir darüber gesprochen hat. Ich kam einfach eines Tages von der Schule, und er war weg. Ich habe tage-, wenn nicht sogar wochenlang nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen.“ Er starrte auf seine Hände, die rau und schwielig von der harten Arbeit waren, und streckte seine Finger. „Das habe ich noch nie jemandem erzählt.“
In diesem Augenblick erkannte Olivia den Schmerz, den er zu verbergen suchte. „Vielleicht kann ich mit Julian sprechen. Ich meine, wenn es dir nichts ausmacht …“
Er schüttelte den Kopf. „Wieso sollte es mir was ausmachen?“
„Ich mag es, mich mit ihm zu unterhalten.“ Letzte Nacht war sie lange wach geblieben, und als Julian und Daisy vom Strand zurückkamen, hatte sie sich lange mit ihm unterhalten. „Wusstest du, dass er letzten Frühling den SAT-Test gemacht und eintausendfünfhundertfünfzig Punkte erreicht hat? Achthundert in Mathe, siebenhundertfünfzig im Mündlichen.“ Sie sah Überraschung in Connors Augen aufblitzen.
„Sechzehnhundert sind ein perfektes Ergebnis, oder?“, fragte er.
„Ja.“
„Er ist in der Hälfte seiner Schulfächer durchgefallen.“
„Das klingt für mich so, als wenn die Schule sich nicht um ihn kümmert.“ Es fühlte sich ganz komisch erwachsen an, mit ihm über seinen Teenager-Bruder zu sprechen. Das war neu – sich als Erwachsene mit einer Menge eigener Erfahrungen mit Connor auseinanderzusetzen. Mit einem Mal fühlte sich ihre Beziehung viel komplizierter an. Als sie ihm hier das erste Mal wieder begegnet war, hatte sie nur daran gedacht, sich vor ihm zu produzieren, ihm ihr neues Ich zu zeigen, ihn bereuen zu lassen, dass er sie vor all den Jahren aus seinem Leben ausgeschlossen hatte. Jetzt kam ihr dieses Verhalten kindisch und oberflächlich vor – und beneidenswert simpel. Auch wenn es nicht gehalten hat. Wie
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