Verstand und Gefühl
war es nur die natürliche Folge der starken Liebe eines jungen, leidenschaftlichen Herzens.
Dies war eine Zeit des Glücks für Marianne. Ihr Herz gehörte Willoughby, und die liebevolle Anhänglichkeit an Norland, die sie von Sussex mitgebracht hatte, wurde nun durch den Charme, den seine Gesellschaft ihrem jetzigen Heim verlieh, wohl eher gemildert, als sie geglaubt hatte.
Elinor war nicht so glücklich. Ihr Herz war nicht so ruhig, und an den Vergnügungen hatte sie keine so reine Freude. Sie boten ihr keinen Gefährten, der sie für das entschädigen konnte, was sie zurückgelassen hatte, oder der sie je mit weniger Bedauern an Norland denken ließ. Weder Lady Middleton noch Mrs. Jennings konnten ihr die Unterhaltung bieten, die sie vermißte, obgleich die letztere unentwegt redete und Elinor von Anfang an eine Freundlichkeit entgegenbrachte, die ihr einen großen Anteil an ihren Gesprächen sicherte. Sie hatte Elinor ihre eigene Geschichte bereits drei- oder viermal erzählt, und wäre Elinors Gedächtnis dieser Mitteilungsflut gewachsen gewesen, hätte sie schon sehr zeitig während ihrer |64| Bekanntschaft alle Einzelheiten von Mr. Jennings letzter Krankheit wie auch die letzten Worte, die er wenige Minuten vor seinem Tod zu seiner Gattin gesagt hatte, gekannt. Lady Middleton war nur deshalb angenehmer als ihre Mutter, weil sie stiller war. Elinor brauchte nicht lange, um zu erkennen, daß ihre Zurückhaltung lediglich ihrer ruhigen Art zuzuschreiben war, die mit Verstand nichts zu tun hatte. Ihrem Gatten und ihrer Mutter gegenüber verhielt sie sich nicht anders als zu ihnen, und ein vertrauter Umgang mit ihr war deshalb weder zu erwarten noch zu wünschen. Sie hatte niemals mehr zu sagen, als was sie am Tag zuvor auch schon gesagt hatte. Ihre Fadheit war unveränderlich, denn selbst ihre Gemütsverfassung war immer die gleiche; und obwohl sie sich den Landpartien, die ihr Gatte arrangierte, nicht widersetzte – vorausgesetzt, alles wurde stilvoll durchgeführt und ihre beiden ältesten Kinder konnten dabeisein –, schien sie niemals mehr Freude daran zu haben, als wenn sie zu Hause gesessen hätte; – und so wenig trug ihre Gegenwart durch Teilnahme an der Unterhaltung zum Vergnügen der anderen bei, daß sie manchmal nur durch ihre Besorgnis wegen ihrer lärmenden Jungen daran erinnert wurden, daß sie unter ihnen war.
Allein in Colonel Brandon von all ihren neuen Bekannten fand Elinor wirklich einen Menschen, der überhaupt den Respekt eines befähigten Mannes beanspruchen konnte, der Interesse an einer Freundschaft erweckte und an dessen Gesellschaft man sich erfreuen konnte. Willoughby kam nicht in Frage. Ihre Bewunderung und Achtung, selbst eine schwesterliche Achtung gehörten ihm ganz und gar; aber er war ein Liebhaber; seine Aufmerksamkeiten galten allein Marianne, und ein weit weniger angenehmer Mann wäre da vielleicht im großen und ganzen bessere Gesellschaft gewesen. Colonel Brandon bekam zu seinem Unglück keine solche Ermutigung, nur an Marianne zu denken, und in seiner Unterhaltung mit Elinor fand er den größten Trost für die gänzliche Gleichgültigkeit ihrer Schwester.
Elinors Mitgefühl für ihn wurde noch größer, da sie Grund |65| hatte zu vermuten, daß er den Schmerz enttäuschter Liebe schon einmal kennengelernt hatte. Diese Vermutung hatte sich aus Worten ergeben, die er eines Abends in Barton Park, als sie sich mit beiderseitigem Einverständnis hingesetzt hatten, während die anderen tanzten, zufällig fallenließ. Seine Augen waren auf Marianne gerichtet, und nach einem Schweigen von einigen Minuten sagte er mit einem schwachen Lächeln: »Ihre Schwester billigt, wie ich höre, keine zweite Bindung.«
»Nein«, erwiderte Elinor, »ihre Überzeugungen sind ganz und gar romantisch.«
»Oder sie meint vielmehr, daß es das gar nicht geben kann.«
»Vermutlich ja. Aber wie sie das fertigbringt, ohne über den Charakter ihres eigenen Vaters nachzudenken, der selbst zwei Frauen hatte, weiß ich nicht. Doch in ein paar weiteren Jahren werden ihre Ansichten eine vernünftige Grundlage gesunden Menschenverstands und Wahrnehmungsvermögens erhalten haben; und dann sind sie vielleicht nicht nur von ihr selbst, sondern auch für andere leichter zu verstehen und zu rechtfertigen als jetzt.«
»Das wird wahrscheinlich der Fall sein«, erwiderte er, »und doch liegt etwas so Liebenswertes in den Vorurteilen eines jungen Gemütes, daß es einem leid tut zu sehen, wie es
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