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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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mißtrauen.
    Mariannes Freude überstieg fast jedes Maß an Glückseligkeit, so groß waren ihre Erregung und ihre Ungeduld abzureisen. Daß sie ihre Mutter nicht gern verließ, war das einzige Mittel, ihr etwas Ruhe zurückzugeben, und im Augenblick des Abschiednehmens war ihr Kummer darum ganz außerordentlich. Die Betrübnis ihrer Mutter war kaum geringer, und Elinor war die einzige der drei, die die Trennung nicht als eine ewige zu betrachten schien.
    Sie reisten in der ersten Januarwoche ab. Die Middletons sollten etwa eine Woche später folgen. Die Misses Steele hielten ihre Stellung in Barton Park und sollten sie erst mit dem Rest der Familie aufgeben.

|172| Kapitel 26
    Elinor konnte nicht mit Mrs.   Jennings zusammen in der Kutsche sitzen und eine Reise nach London unter ihrer Obhut und als ihr Gast antreten, ohne sich über ihre Lage zu wundern – so kurz war ihre Bekanntschaft mit dieser Dame, so wenig paßten sie hinsichtlich ihres Alters und ihres Charakters zusammen, und so zahlreich waren noch wenige Tage zuvor ihre Einwände gegen einen solchen Schritt gewesen! Doch diese Einwände waren alle mit jener glücklichen, jugendlichen Begeisterung, die Marianne und ihrer Mutter gleichermaßen eigen war, zurückgewiesen oder ignoriert worden; und Elinor konnte trotz ihrer gelegentlichen Zweifel an Willoughbys Beständigkeit diesen Taumel wunderbarer Erwartung, der Mariannes ganze Seele erfüllte und ihre Augen strahlen ließ, nicht miterleben, ohne zu fühlen, wie trüb ihre eigenen Aussichten, wie freudlos ihr eigener Gemütszustand im Vergleich dazu war und wie gern sie an der Unruhe teilhätte, in der sich Marianne befand – das gleiche belebende Ziel vor Augen haben, die gleiche Möglichkeit, hoffen zu können. Eine kurze, eine sehr kurze Zeit mußte jedoch nun entscheiden, was Willoughbys Absichten waren. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er bereits in der Stadt. Mariannes Ungeduld abzureisen zeigte deutlich, daß sie fest damit rechnete, ihn dort anzutreffen; und Elinor war nicht nur entschlossen, sich um alle neuen Erkenntnisse über seinen Charakter zu bemühen, die ihr eigene Beobachtungen oder die Informationen von anderen verschaffen konnten – sondern ebenso mit der größten Aufmerksamkeit sein Verhalten ihrer Schwester gegenüber zu überwachen, um somit, noch ehe sie sich häufig begegnet waren, in Erfahrung zu bringen, was für ein Mensch er war und was er |173| beabsichtigte. Sollte das Ergebnis ihrer Beobachtungen ungünstig sein, war sie entschlossen, ihrer Schwester auf jeden Fall die Augen zu öffnen. Sollte es anders ausfallen, würden ihre Bemühungen von anderer Art sein – sie mußte dann lernen, jeden selbstsüchtigen Vergleich zu vermeiden und jedes Bedauern zu verbannen, das ihre Befriedigung über Mariannes Glück mindern könnte.
    Sie waren drei Tage unterwegs, und Mariannes Verhalten während der Reise war ein treffendes Beispiel dafür, was von ihrer zukünftigen Höflichkeit und Umgänglichkeit gegenüber Mrs.   Jennings zu erwarten war. Sie saß fast während der ganzen Reise schweigend da, versunken in ihre eigenen Betrachtungen, sagte von sich aus kaum einmal etwas, außer wenn ihr der Anblick einer Landschaft von besonderer Schönheit einen Ausruf des Entzückens entlockte, der ausschließlich an ihre Schwester gerichtet war. Um dieses Benehmen wiedergutzumachen, übernahm Elinor deshalb sogleich den Posten zur Wahrung der Höflichkeit, den sie sich selbst zugewiesen hatte – sie verhielt sich gegenüber Mrs.   Jennings äußerst aufmerksam, plauderte mit ihr, lachte mit ihr und hörte ihr zu, wann immer es ihr möglich war. Und Mrs.   Jennings ihrerseits behandelte sie beide mit der allergrößten Freundlichkeit, war bei jeder Gelegenheit bedacht auf ihre Bequemlichkeit und ihr Vergnügen und war nur beunruhigt, daß sie die beiden nicht dazu bringen konnte, ihr eigenes Essen im Gasthaus auszuwählen, und sie nicht aus ihnen herausbekommen konnte, ob sie lieber Lachs als Dorsch oder lieber gekochtes Huhn als Kalbsschnitzel wollten. Sie erreichten die Stadt am dritten Tag um drei Uhr, froh, nach einer solchen Reise aus der Enge der Kutsche erlöst zu sein, und bereit, den ganzen Luxus eines guten Feuers zu genießen.
    Es war ein schönes Haus, und es war auch schön eingerichtet. Den jungen Damen wurde sofort ein sehr behagliches Zimmer zugewiesen. Es war vorher Charlottes Zimmer gewesen, und über dem Kaminsims hing noch immer ein Bild mit einer auf Seide

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