Versteckt wie Anne Frank
einem Bauern, der Küchenabfälle abholte.
In Westerbork musste man zweimal am Tag zum Appell erscheinen. Alle mussten sich dann ordentlich nebeneinander aufstellen und die Deutschen kontrollierten anhand von Listen, ob alle noch da waren. Meine Mutter hatte meinem Vater in Geheimsprache einen Brief geschrieben, in dem stand, dass er vor dem Abendappell fliehen sollte. Er sollte unter einem Zaun hindurchkriechen und sich irgendwo auf der Heide in einer Mulde verstecken, bis der Bauer ihn abholen würde.
Mein Vater wartete, bis es Neumond wurde, damit es draußen richtig dunkel wäre. Dann floh er wie vereinbart vor dem Abendappell. Er lief zur Heide und fand die beschriebene Mulde. Während er auf den Bauern wartete, kam eine Patrouille deutscher Soldaten und Feldjäger vorbei. Einer der Feldjäger sah meinen Vater dort liegen. Sie schauten sich direkt in die Augen, aber der Mann sagte nichts.
Der Bauer holte meinen Vater ab, versteckte ihn unter den Gemüseabfällen, fuhr wieder ins Lager, um es anschließend wie gewohnt zu verlassen – vorbei an den Wachposten am Eingang. Ang holte ihn am nächsten Tag bei dem Bauern ab und brachte ihn mit dem Zug und einem Leihfahrrad zu unserer Untertauchadresse.
Auf dem Bauernhof in Doornspijk gab es zwei große Wohnzimmer. In dem einen, etwas erhöhten, der »Opkamer«, trank die Familie van Zeeburg sonntags Kaffee, in dem anderen wohnten wir die ganze Woche. Wir gingen kaum raus, vor allem, weil mein Bruder das viel zu gefährlich fand. Manchmal gingen meine Mutter und ich trotzdem, dann schlichen wir uns kurz auf das Feld hinter dem Bauernhof. Das führte ab und an zu Streit, aber wir waren zu sehr aufeinander angewiesen, als dass wir einander lange hätten böse sein können – und ach, kleine Streitereien halfen auch gegen die Langeweile.
Meine Mutter und ich schliefen in einem Alkoven im Wohnzimmer, mein Vater und mein Bruder auf dem Dachboden. Bei der Familie van Zeeburg gab es noch zwei Untertaucher, eine deutsch-jüdische Mutter mit ihrem Sohn. Der Sohn sah überhaupt nicht jüdisch aus, er arbeitete ganz normal als Knecht auf dem Land. Wir aber hatten nichts zu tun, wir spielten Karten und wir lasen viel. Auf Listen der Bibliothek in Nunspeet kreuzten wir an, welche Bücher wir gern hätten. Die wurden dann geholt, zusammen mit allerlei religiösen Büchern für die Familie van Zeeburg. Nach dem Krieg erzählte eine Bibliotheksmitarbeiterin, sie habe vermutet, dass bei den van Zeeburgs Untertaucher lebten. »Sie haben plötzlich ganz andere Bücher ausgeliehen.«
Bei der Familie wohnte auch die Oma von über siebzig Jahren. Der Bauer, Beert, war etwa dreißig. Er war verlobt. Dann gab es noch eine unverheiratete Bäuerin um die fünfzig und eine unverheiratete Halbschwester. Regelmäßig kamen auch lauter verheiratete Schwestern zu Besuch, die wussten, dass wir untergetaucht waren.
Die Familie van Zeeburg war in keiner Weise auf Geld aus, aber natürlich war Geld nötig. Während unseres Aufenthalts verkauften wir den Pelzmantel meiner Mutter und gaben der Familie den Erlös. Nach dem Krieg schenkten meine Eltern der Familie van Zeeburg eine Kutsche und eine Uhr für den Kirchturm. Mein Bruder hat eine Yad-Vashem-Auszeichnung für sie beantragt, und die haben sie auch bekommen.
Auf dem Dachboden baute mein Bruder eine Luke zum Hohlraum zwischen dem Fußboden und der Decke darunter. Man konnte sie nicht erkennen, weil er die Schnittkanten genau zwischen die Fugen der Bretter gelegt hatte. Wir haben das Versteck ein paarmal benutzt, wenn wir jemanden durch die Hintertür oder die Stalltür hereinkommen hörten. Sie standen fast immer offen. Im Nachhinein war unsere Flucht aber unnötig gewesen.
Bis zu dem Nachmittag, an dem uns jemand vom Widerstand vor deutschen Soldaten warnte, die systematisch alle Bauernhöfe nach abgeschossenen englischen Fliegern durchsuchten. Hals über Kopf rannten wir auf den Dachboden, krochen durch die Luke und hockten uns hin. Wir hörten, wie die Deutschen hereinkamen und jedes Stockwerk durchsuchten. Einmal liefen sie über die Luke, und ich stand Todesängste aus. Das Versteck hat uns damals das Leben gerettet.
Eines Tages, im April 1945, kam unser Nachbar Hannes, der beim Widerstand war, ins Haus. »Die Kanadier sind in Nunspeet.« Mein Vater rannte aus dem Bauernhof ins Freie. Mein Bruder und ich folgten ihm. Wir standen gerade draußen und unterhielten uns, als wir sahen, wie sich das Stroh im Schuppen bewegte. Einen
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