Versteckt wie Anne Frank
sie Abschied nahm: »Wir sind auf dem Weg nach Polen.«
Meine Schwester Selly war siebeneinhalb Jahre älter als ich, und ihr war schon früh klar, dass wir als Juden in großer Gefahr waren. Während des Abwaschs sagte sie einmal: »Hoffentlich erwischen sie mich nie, denn das bedeutet den Tod. Ich werde alles versuchen, um ihnen zu entkommen.« Und dann fügte sie hinzu: »Wenn wir überleben, benennst du dein Kind nach mir, und ich mache das umgekehrt auch. Also wird meine Tochter Lize Marie heißen, und wenn du eine Tochter bekommst, nennst du sie Selly.« Ich muss sie seltsam angesehen haben – ich war gerade mal zehn Jahre alt.
Die Lage wurde immer bedrohlicher. Aber mein Vater wollte nicht untertauchen. Er wollte andere nicht in Gefahr bringen.
Da alle Juden nach Amsterdam ziehen mussten, wohnte Onkel Dolf, ein Bruder meines Vaters, mit seiner Frau und zwei Töchtern bei uns im Haus. Eines Tages sollte sich Onkel Dolf im Hauptquartier der SS melden. Doch er ging nicht dorthin.
Mir fiel auf, dass er allen nach dem Frühstück einen Kuss gab. Danach ist er ins IJ , einen Meeresarm der Zuiderzee, gesprungen. Sein Selbstmord machte enormen Eindruck auf mich und stürzte uns zu Hause in Trauer und Verzweiflung.
Im Juni 1943 gab es in unserem Viertel eine Razzia . Über einen Lautsprecher kündigten sich die Deutschen an. Danach stürmten Männer unser Haus, grobschlächtige Kerle in Uniform. Mit der Straßenbahn wurden wir zum Sportplatz auf dem Olympiaplein gebracht. Auf der kurzen Fahrt saß vor mir eine Frau, die ein Baby in einer Reisewiege auf dem Schoß hielt. »Sieh nur«, sagte meine Mutter, »was für ein Winzling, wie furchtbar, dass er auch mitgenommen wird.«
Auf dem Sportplatz haben wir ewig gewartet. Schließlich wurden wir zum Bahnhof Muiderpoort gebracht. An den Gleisen patrouillierten überall Deutsche mit Gewehren und Hunden. Plötzlich sagte meine Schwester: »Hör mir gut zu, Liesje, ich muss dir was sagen. Ich fliehe. Ich renne gleich zwischen den Waggons hindurch und verschwinde. Du darfst Pa und Ma nichts sagen, kein Wort. Erst wenn der Zug fährt, darfst du es erzählen.«
Ich stand Todesängste aus. Sie erschießen sie, dachte ich. Jeden Moment würde ein Knall ertönen. Aber nichts geschah. Wir mussten in den Zug. Nicht in einen normalen Waggon, sondern in einen, in dem normalerweise Tiere transportiert wurden. Wir standen dort und warteten und warteten. Bis meine Mutter in Panik geriet: »Wo ist Selly? Liesje, weißt du, wo Selly ist?« Erst als sich der Zug in Bewegung setzte, erzählte ich, dass Selly geflohen war. Später stellte sich heraus, dass sie sich hinter einem Gleis verborgen gehalten hatte. Danach war sie zu ihrem Freund Mark gegangen. In Westerbork , dem Ziel des Zuges, erhielten wir später die Nachricht, Selly sei verheiratet. Wir verstanden sofort, dass sie untergetaucht war. Denn um gemeinsam untertauchen zu können, musste man verheiratet sein, sonst fand man keine Familie, die einen aufnehmen wollte.
In Westerbork kamen wir in einer großen Halle an, in der viele Menschen zusammengepfercht standen. Mein Vater hatte Angst, sie würden die Diamanten finden, die er in aller Eile eingesteckt hatte. Da er davon ausging, sie würden Kinder nicht durchsuchen, bat er mich, die Diamanten in meiner Unterhose zu verstecken. Das wollte ich nicht, seine Bitte kam mir sehr seltsam vor. Was er schließlich mit den Diamanten gemacht hat, weiß ich nicht.
Wir waren drei Wochen in Westerbork. Dann hörten wir, dass wir nach Amsterdam zurückdurften. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Wir waren in einem Viehwaggon abtransportiert worden und kehrten in einem normalen Zug nach Amsterdam zurück. Und mein Vater erklärte mir auch nicht, dass wir zurückkonnten, weil sein Name auf einer Liste wichtiger Diamanthändler stand. Dadurch hatte er eine Sperre bekommen, eine vorübergehende Freistellung von der Deportation . Er erklärte überhaupt selten etwas. Das habe ich ihm später, als ich selbst schon große Kinder hatte, übel genommen. »Warum hast du mir nie was erzählt?«, fragte ich. »Du warst eben zu klein, um das Kriegselend zu verstehen«, antwortete er.
Meine Schwester kam mit ihrem Mann Mark bei einer Freundin unter, die jedoch schon nach ein paar Wochen sagte: »Ihr müsst weg hier, wir fahren in Urlaub.« Eilig suchten sie einen anderen Unterschlupf. Marks Mutter fand einen, aber schon bald wurden sie dort verraten. Sie landeten in der Hollandsche Schouwburg , wo
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