Versteckt wie Anne Frank
Ich war unsichtbar, bevor die Deutschen das Haus betraten.
Sie durchsuchten den gesamten Bauernhof, auch den Dachboden. Zwischen den Ritzen der Bretter sah ich ihre Stiefel vorbeimarschieren. Ich hielt die Luft an, aber sie würden mich nicht finden, da war ich sicher, es war nahezu unmöglich, dass sich jemand hier verstecken konnte.
Die Männer von der Gestapo blieben noch eine Weile auf dem Bauernhof, sie tranken etwas und fuhren danach wieder mit dem Boot weg. Erst anderthalb Stunden später wurde ich aus meinem Versteck befreit, dann erst waren meine Untertaucheltern sicher, dass die Deutschen nicht zurückkommen würden.
Als Friesland Ende April befreit wurde, sagten sie: »So, jetzt darfst du uns deinen Namen verraten.« Ich schwieg. »Sag uns, wie du heißt, der Krieg ist vorbei.« Aber ich hatte meiner Tante in Haarlem versprochen, niemals meinen Namen zu sagen. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht mehr, wie ich heiße.« Aber zu mir selbst sagte ich: Ich heiße Jacky Eljon, das weiß ich ganz genau.
Im Konzentrationslager Westerbork , wo meine Mutter im Februar 1945 angekommen war, bekamen sie nach der Befreiung Listen mit Namen von Kindern, die aufgetaucht waren. Aber meiner stand natürlich nicht darauf, niemand kannte meinen echten Namen. Das Rote Kreuz wusste inzwischen, dass es in Hommerts einen Jungen gab, der seinen Namen nicht mehr wusste. Sie organisierten ein Treffen mit Frauen aus Westerbork, lauter Frauen, deren Kinder nicht zurückgekehrt waren. Die meisten waren in den Konzentrationslagern ermordet worden.
Zwei Tage vor meinem achten Geburtstag holte mich eine Schwester vom Roten Kreuz ab. Sie nahm mich mit nach Sneek. Es war ziemlich weit, ich saß für ungefähr zehn Kilometer auf ihrem Gepäckträger. Sie brachte mich zur Turnhalle einer Schule, in der lauter streng dreinblickende Damen und Herren an einem Tisch saßen.
Hinten im Raum saßen in einer Reihe zwanzig Frauen. Ich sah meine Mutter sofort, aber ich durfte nicht zu ihr, musste bei Nummer eins anfangen. Also ging ich an den Frauen vorbei. Die Deutschen hatten sie kahl geschoren und jetzt waren ihre Haare schon wieder ein wenig gewachsen. Am Ende der Reihe, auf dem siebzehnten Platz, saß meine Mutter. Ich sprang auf ihren Schoß. Endlich, nach vier Jahren, war ich wieder bei ihr.
Nie wieder habe ich mich so eins mit ihr gefühlt wie in dieser Turnhalle in Sneek. Danach fuhren wir nach Westerbork. Sie schlief in dem Offiziershaus, in dem während des Krieges die SS gewesen war. Jetzt waren die Rollen vertauscht und die deutschen Soldaten hockten in den Baracken. Am ersten Abend in Westerbork kam auch mein Vater. Er hatte seine Arbeit bei der Bank schon wieder aufgenommen, vorläufig aber nicht in Amsterdam, sondern in Groningen.
Als er mich zum ersten Mal wiedersah, fiel er auf die Knie und dankte dem lieben Herrgott, dass er mich gerettet hatte. Was benimmt sich der Mann komisch, dachte ich, denn ich wusste gar nichts über den lieben Herrgott. Später begriff ich, dass er durch den Krieg und das Untertauchen verschiedene christliche Gewohnheiten übernommen hatte, obwohl er Jude blieb und stolz darauf war. In diesem Moment, als ich den Mann dort auf den Knien liegen sah, fand ich ihn verrückt und abstoßend. Er ähnelte meinem Vater, wie er vor dem Krieg gewesen war, überhaupt nicht, dem Mann, nach dem ich mich so gesehnt hatte. Ich wandte mich von ihm ab.
Meinen achten Geburtstag, zwei Tage später, feierten wir noch in Westerbork. Ich bekam sogar ein Geschenk: einen Stift und acht Töpfchen mit bunter Tinte zum Zeichnen. Aber viel klarer steht mir noch vor Augen, dass ich ein Ei essen wollte. Das bekam ich, ein Spiegelei in einer Pfanne. Vor dem Fenster des Offiziershauses, unserer vorübergehenden Bleibe, habe ich das Ei gegessen, während auf der anderen Seite die Deutschen standen, bewacht von niederländischen Soldaten. Vor ihren Augen habe ich die Pfanne ausgeschleckt – das war meine Rache.
Wir blieben in Westerbork, bis wir wieder nach Amsterdam durften. Alle waren froh und freuten sich, dass der Krieg vorbei war.
Später lief alles schief. Ich konnte meinen Eltern nicht verzeihen, dass sie mich zu Fremden fortgegeben hatten. Das Gefühl, von ihnen im Stich gelassen worden zu sein, ist nicht mehr weggegangen. Ein vierjähriges Kind kann unmöglich begreifen, dass man es zu seinem eigenen Besten untertauchen lässt. Ich würde meine Kinder nie allein untertauchen lassen, niemals Fremden
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