Versteckt wie Anne Frank
der Hand. Er ist für einen Mann vom Widerstand. Wir werden uns selbst anzeigen.«
Ich war völlig erstaunt. »Was geschieht denn dann mit mir?«
»Du bleibst hier. Du bist hier in guten Händen. Wir zeigen uns an, wir wollen bei Selly in Westerbork sein.«
Mit dem Zettel in der Hand ging ich die Treppe hinunter. Auf halber Strecke fing ich an zu schreien. Ich fing so fürchterlich an zu schreien, dass Frau Wisse zu mir gerannt kam. »Was ist mit dir?«, fragte sie.
Ich erzählte, was passiert war, und gab ihr den Zettel. Sie wurde furchtbar wütend auf meine Eltern und schimpfte ihnen die Hucke voll. Schließlich beschloss sie: »So weit wird es nicht kommen.«
Obwohl meine Eltern sich schließlich nicht selbst anzeigten, habe ich diesen Vorfall mein Leben lang nicht verarbeitet. Wie kann es sein, dass sie mich zurücklassen wollten?
Ich klammerte mich während des Krieges an den Gedanken, dass Selly wieder flüchten würde, weil ihr das beim ersten Mal, am Muiderpoorter Bahnhof, so gut gelungen war.
Sie ist unterwegs, dachte ich, oder hat eine Untertauchadresse gefunden. »Ich lasse mich nicht schnappen«, hatte sie gesagt.
In den letzten Monaten, die wir bei Frau Wisse verbrachten, hatten meine Eltern oft Krach. Meine Mutter warf meinem Vater noch immer vor, er habe zu wenig für Selly getan, was mein Vater bestritt.
»Ich kann nicht mehr«, sagte Frau Wisse eines Tages. Wir mussten weg. Sie fand, es würde zu gefährlich. Das jedenfalls sagte sie. In Wirklichkeit muss es einen anderen Grund gegeben haben, denn nach uns hat sie wieder einer jüdischen Familie Unterschlupf geboten.
Wir landeten danach bei der Familie Pos, bei der noch weitere Untertaucher wohnten. Das war angenehm, vor allem für meinen Vater, denn er konnte mit ihnen über den Krieg diskutieren. Das war im Winter 1944. Es herrschte Hunger, aber auch die Hoffnung, der Krieg würde bald vorbei sein.
Wir blieben ein paar Wochen dort, bis Frau Pos zu meiner Mutter sagte: »Ich muss dir was sagen, auch wenn’s mir schwerfällt. Ihr solltet euch eine andere Adresse suchen.«
»Warum?«, fragte meine Mutter.
»Dein Mann schaut immer so traurig. Wir können das nicht länger ertragen.«
Das traf meinen Vater sehr. Er konnte unmöglich plötzlich sein Gesicht verändern, die Traurigkeit lag in seinem Charakter und war in der Situation begründet. Er wurde mit dem Untertauchen nur schlecht fertig.
Meine Mutter hatte eine kluge Idee. Eines Nachmittages war Frau Rooyakkers zu Besuch, eine sympathische Frau, die ein paar Häuser weiter wohnte und der man ganz bestimmt vertrauen konnte, denn auch die Untertaucher durften mit ihr reden. »Ich habe eine etwas seltsame Bitte«, sagte meine Mutter zu ihr, »und Sie müssen eine ehrliche Antwort geben. Wir müssen bei Frau Pos weg und wir wissen nicht, wohin.«
»Kommt nur zu uns, das Haus steht euch offen. Aber wir haben fünf Kinder, geht nur kurz mit nach oben, mal sehen, wie es um den Bohnenvorrat bestellt ist.«
Sie gingen hoch. Es war nicht viel zu essen da für so viele Leute. »Das muss für uns alle reichen, mehr haben wir nicht. Ist das in Ordnung?«
Wir zogen sofort bei ihr ein. In der ersten Nacht überließen Frau und Herr Rooyakkers meinen Eltern ihr Schlafzimmer. »Sie müssen gut schlafen.«
Als ich Cor Rooyakkers viele Jahre später im Seniorenheim besuchte, fragte ich sie, weshalb sie uns damals, mit so wenigen Lebensmitteln im Haus, aufgenommen hat. »In dieser Zeit hatten furchtbar viele Kinder die Masern«, antwortete sie. »Und ich dachte: Wenn ich diese Familie jetzt zu uns nehme, dann wird Gott dafür sorgen, dass meine Kinder keine Masern bekommen.«
Es war eine einfache Arbeiterwohnung. Auf der einen Seite lagen die Dünen, auf der anderen schaute man auf die Felder, auf denen im Frühjahr die Tulpenzwiebeln blühten. Wir aßen oft gestampfte Tulpenzwiebeln.
Mein Vater ging fast nie nach draußen. Aber als der Bohnenvorrat wirklich zu Ende war, ging er mit einer Schubkarre zu einem Bauern in der Nähe. Ich durfte mit. Er tauschte die Eheringe gegen einen Weizenvorrat. Mit einer vollen Schubkarre kamen wir zurück zu den Rooyakkers, die sich sehr freuten. Und mein Vater war froh, etwas zurückgeben zu können.
Allmählich entspannte sich die Lage. Ich durfte mit den Kindern aus der Nachbarschaft in den Dünen spielen. »Liesje läuft aber komisch«, sagten sie beim ersten Mal. »Sie kann gar nicht richtig rennen.«
»Kein Wunder«, sagte Tante Cor, »sie hat jahrelang
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