Versteckt wie Anne Frank
drinnen gesessen, sie rennt jetzt zum ersten Mal wieder.«
Mein Vater fing an mir Unterricht zu geben. Französisch, Englisch. Er wollte, dass ich nach dem Krieg aufs Gymnasium ginge. Um mich auf die Schule vorzubereiten, kam sogar ein Mathematiklehrer.
Als uns eines Morgens die Nachricht von der Befreiung erreichte, lief mein Vater in Pantoffeln bis zum nächsten Dorf – er konnte es einfach nicht glauben. Dort hingen Flugblätter an den Bäumen, auf denen stand, dass wir befreit waren. Ein solches Blatt nahm er mit.
Eine Stunde später, als wir gemeinsam am Kamin bei den Rooyakkers saßen, sagte er zu mir: »Liesje, du bist jetzt nicht mehr Liesje Evers, du bist jetzt wieder Liesje Elion.«
Nach den ersten Tagen der Freude sind wir mit dem Boot nach Amsterdam gefahren. Je mehr wir über die Konzentrationslager hörten, desto klarer wurde uns, dass Selly und ihr Mann Mark nicht zurückkommen würden.
Wenn ich die Zeitung auf die Fußmatte fallen hörte, schlich ich mich oft nach unten, um zu schauen, ob etwas über die Lager darin stand. Wenn das so war, riss ich die Seite heraus und versteckte sie. »Na, so was«, sagte meine Mutter dann, »da fehlt eine Seite.« Ich wollte nicht, dass sie von den Gräueln erfuhr.
Freitagabends bekamen wir oft Besuch von Freunden oder Bekannten oder einem der wenigen Verwandten, die den Krieg auch überlebt hatten. Eine seltsame Atmosphäre herrschte dann. Man traute sich nicht, laut über das Geschehene zu sprechen. Frauen flüsterten sich hinter vorgehaltenem Taschentuch zu, wer zurückgekehrt war und wer nicht.
Ich habe oft versucht die Trauer meiner Eltern ein wenig zu lindern, ein Ersatz für meine Schwester zu sein. Aber das war unmöglich. In anderen Momenten sagte ich: »Hört mal, ich bin noch da.« Wenn ich das sagte, entgegnete meine Mutter: »Wenn jemandem ein Bein amputiert wurde, sagt man doch auch nicht ›Sei doch froh, dass du das andere noch hast!‹« Das habe ich mindestens viermal zu hören bekommen.
Bei uns zu Hause war alles verboten. Es gab keine Feiern, kein Nikolaus. Meinem einzigen Cousin mütterlicherseits tat ich so leid, dass er einmal ein Geschenk für mich kaufte. Er gab meinen Eltern vorher Bescheid. »Ich komme zu Nikolaus kurz vorbei«, sagte er, »um ein paar Geschenke zu bringen.« Er wurde zusammengestaucht. »Wir feiern keinen Nikolaus und wir wollen nicht, dass du kommst!«
Silvester gingen sie extra früh schlafen. Um Mitternacht wollte ich ihnen ein frohes neues Jahr wünschen. Ich wurde aus dem Zimmer geworfen. »Das gibt es für uns nicht mehr.«
Ich habe später selbst fünf Kinder bekommen. Zum Glück nur Jungen. Bei jeder Geburt musste ich an die Bemerkung meiner Schwester denken, dass wir ein Kind nach der anderen benennen würden, falls wir den Krieg überleben sollten. Meine Mutter hätte eine Enkelin namens Selly nicht verkraftet. Und auch ich stellte es mir sehr schwer vor.
Viel später habe ich ein Album verfasst, ähnlich einem Poesiealbum, um meine Kriegsvergangenheit zu bewältigen. In Reimform habe ich zuerst die fröhlichen Monate vor dem Krieg beschrieben und dann die düsteren Kriegsjahre und wie es wirklich als Untertaucher war. Und die Trauer nach dem Krieg, aber auch, wie glücklich meine Eltern später über meine Kinder waren, und wie sehr mich das tröstete. Ich hatte das Gefühl, ihrem Leben auf diese Weise doch noch etwas Gutes gegeben zu haben. Das Album ist eine Art Familiengeschichte in Versform geworden.
Die Idee für das Album kam mir durch eine Zeichnung meiner Schwester. Sie hatte eines Tages in mein Poesiealbum schreiben wollen. Auf der einen Seite fertigte sie damals eine Zeichnung an, auf der anderen wollte sie später einen Vers hinzufügen. Doch dazu kam es nicht mehr. Die Zeichnung war ein Porträt von mir. »Liesje, findest du, es sieht dir ähnlich?« Das hat sie mich an diesem Tag gefragt, und das habe ich jetzt daruntergeschrieben. Aber die andere Seite habe ich leer gelassen, sie muss leer bleiben. Ich kann sie nicht für sie füllen.
Wo sind die Jacken?
Maurice Meijer,
geboren in Amsterdam am 5. Juni 1937
Nach dem Krieg bekamen wir eine neue Wohnung am Amsterdamer Hugo de Grootplein. Aus alten Papieren, die wir dort fanden, ging hervor, dass dort während des Krieges ein begeisterter Anhänger der NSB gewohnt hatte, ein Herr Maas. Meine Mutter brachte die Papiere zur PRA , der Politischen Rechercheabteilung, die nach dem Krieg gegründet worden war, um Niederländer vor
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