Versteckt wie Anne Frank
dachte, von einer Krankenschwester, aber später zeigte sich, dass sie von meiner Großmutter war. Das sind meine ersten Erinnerungen.
Vor dem Krieg hatte mein Vater eine koschere Metzgerei. Genau wie die übrigen jüdischen Metzger im Dorf verkaufte er nur Rindfleisch, während die drei anderen Metzger in Neede Schweinefleisch verkauften. Nach dem Krieg änderte sich das. Die anderen Metzger verkauften auch Rindfleisch und mein Vater musste auch Schweinefleisch verkaufen.
Meine Mutter hat wohl versucht den Sabbat in Ehren zu halten, aber wir mussten oft so lange auf meinen Vater warten, dass wir über den Tellern einschliefen.
Das Judentum bestand für mich aus der Geborgenheit, die meine Großmutter mir gab. Eine große Frau mit einem Kleid voller Flecken, an das eine silberne Brosche geheftet war. Ich kroch gern auf ihren Schoß. Das Kleid war sehr besonders für mich. Seine Farbe war ein ganz eigenwilliges Braun, eine Art dunkle Bronze, es strahlte Wärme aus. Ein solches Braun habe ich später nie wiedergesehen.
Als wir untertauchten, wollten meine Großeltern nicht mit. »Wir gehen nicht weg aus Neede«, sagten sie, »wir haben unser ganzes Leben hier verbracht.« Kurz danach wurden sie aus ihrem Haus geholt und am 14. Mai 1943 im Lager Sobibor ermordet.
In meiner Erinnerung spielt der Krieg erst ab Anfang September 1942 eine Rolle, nachdem ich untergetaucht war. Ich war damals viereinhalb Jahre alt. Auch meine jüngeren Zwillingsschwestern, mein sechs Wochen alter Bruder und meine Eltern tauchten damals unter. Alle getrennt voneinander.
Um die Geburt meines Bruders herum, am 25. August 1942, bekam mein Vater den Aufruf, sich in einem Arbeitslager zu melden. Er hatte vor, das zu tun, denn von Arbeit wird man nicht krank, meinte er. Durch die Geburt seines Sohnes erhielt er ein paar Wochen Aufschub. Jemand vom Widerstand riet ihm zum Untertauchen, sie hatten Adressen für uns. Diesen Rat befolgten meine Eltern.
Der Friseur aus Neede, Herr Grunnekemeijer, holte mich ab. »Du musst hier aussteigen«, sagte er. Wir standen auf einer Brücke. Ich fand es seltsam, dass darunter kein Wasser war, sondern Züge fuhren. »Du gehst hier nach unten«, sagte er und zeigte es mir. »Dann kommst du zu einem Haus. Da musst du hin.«
Ich ging nach unten und klingelte. Ein sehr netter Mann öffnete mir die Tür und nahm mich mit in die Küche, wo ich etwas zu trinken bekam. Vor den Fenstern hingen rot-weiße Gardinen, es war wie das Haus von Hänsel und Gretel.
Später wurde mir klar, dass dieser nette Mann Pfarrer Overduin war. Er war im Widerstand aktiv und suchte den ganzen Krieg über nach Untertauchadressen für Juden.
Nach einer Weile kam eine Frau, die ich auf Anhieb nicht mochte. Aber mit ihr musste ich gehen. Sie hatte fünf Kinder und ich kam als Nummer sechs hinzu. Ich war ein dunkles Kind mit Augenbrauen, die in der Mitte zusammenwuchsen. Wahrscheinlich dachte sie, ich würde so zu sehr wie ein typisch jüdisches Kind aussehen, jedenfalls rasierte sie mir gleich nach meiner Ankunft die Stelle zwischen meinen Augenbrauen. Ohne mir etwas zu erklären. Für mich war das, als hätte ich meine Identität verloren.
Jeden Samstag wusch Tante Nelly uns gründlich. So nannte ich sie, Tante Nelly, ich habe sie nie Mutter oder Mama genannt. Das Waschen passierte in der Küche, sie hatten keine Dusche. Ich musste mich auf einen gelben Küchenstuhl stellen – ich reagiere noch immer allergisch auf gelbe Stühle. Bevor sie anfing mich unsanft zu waschen, schlug sie mich erst mal ohne jeglichen Grund so fest, dass ich bis zum nächsten Samstag grün und blau war.
Ich war immer ein langsamer Esser. Mitten in der Mahlzeit nahm Tante Nelly mir den Teller weg – ich würde wohl nicht mehr mögen. Sie gab das restliche Essen dann ihrem Sohn, der zehn Jahre älter war als ich. Zum Essen bekamen wir einen Becher Milch. Meinen Becher füllte sie unter dem Hahn mit Wasser auf.
»Warum tust du Wasser in meine Milch?«, fragte ich eines Tages.
»Das tue ich nicht«, sagte sie.
»Aber ich habe gesehen, dass du meinen Becher unter den Wasserhahn gehalten hast.«
»Das kann nicht sein.«
Auch nachdem ich sie erwischt hatte, verdünnte sie meine Milch weiterhin mit Wasser. Sie machte sich nicht die Mühe, es zu verbergen. Ich fand es sehr seltsam, dass Erwachsene so lügen konnten.
Eines Tages bekamen wir Kinder alle gleichzeitig eine Kinderkrankheit. Tante Nelly steckte uns alle in ein Zimmer. Als wir fast gesund waren,
Weitere Kostenlose Bücher