Versteckt wie Anne Frank
wurden wir übermütig und tobten auf den Betten. Dabei ging eine Sprungfeder entzwei. Sofort bekam ich die Schuld, ohne dass Tante Nelly auch nur einen Versuch unternommen hätte, herauszufinden, wer auf den Betten herumgehüpft war. Zur Strafe schickte sie mich in den Flur unten im Haus, wo ich mich barfuß auf den kalten Steinfußboden stellen musste. Und dort musste ich stehen bleiben. Wenn ich auf die Idee gekommen wäre, mich hinzusetzen, hätte es Prügel gegeben.
Tante Nellys Mann, Jan, arbeitete viel und war fast nie zu Hause. Dennoch spürte er, glaube ich, dass ich zu kurz kam, denn ab und zu nahm er mich auf den Schoß, um mir ein wenig Wärme zu geben. Ich genoss das. Es war, als wollte er mich beschützen.
Ein echtes Versteck hatte ich nicht. Ab und zu kamen Leute zu Besuch, die auf gar keinen Fall wissen durften, dass es mich gab. Tante Nelly rollte mich dann aufrecht in ein Stück Teppich und stellte mich an die Wand einer Rumpelkammer. Es war sehr stickig. Ich konnte mich nicht bewegen und vor allem wurden meine Beine müde. Ich bekam Krämpfe und hatte furchtbare Angst, dass ich es nicht aushalten oder vielleicht sogar umfallen würde. Für mich dauerte es immer endlos, bis sie den Teppich ausrollte und ich wieder frei war.
In einem Buffetschrank der Familie lagen Passfotos meiner Eltern, die irgendwann mal für ihre Personalausweise gemacht worden waren. Keine Ahnung, wie sie dort hingekommen waren. Wenn es mir richtig schlecht ging, schaute ich heimlich in den Schrank und hielt die Fotos kurz in der Hand.
1944 wurde Tante Nelly wieder schwanger. Als die Geburt des sechsten Kindes bevorstand, musste ich aus dem Haus. Sie brachten mich bei einem Hausarzt in Twente unter. Es war ein etwas älteres Ehepaar. Auch sie gehörten zur Gemeinde von Pfarrer Overduin. Es war für mich der Himmel auf Erden: Sie schlugen nicht, sie nahmen mir den Teller nicht weg, sie verdünnten meine Milch nicht und sie stellten mich nicht zur Strafe auf einen eiskalten Steinfußboden.
Auch hier waren natürlich die Kriegsspannungen zu spüren. Das Wort Razzia kannte ich nicht, aber eines Tages zeigte sich, dass es nichts Gutes bedeutete. Meine Untertaucheltern nahmen mich mit in das drei Stufen höher gelegene Schlafzimmer. In diesem Zimmer gab es einen Schrank, aus dem der Boden herausgenommen werden konnte. Unter dem Schrank gab es einen kleinen Raum, in dem lauter Mädchenspielzeug lag, das von ihren Töchtern war. Dort musste ich mich verstecken. »Du darfst nichts fragen«, sagten sie, »und du darfst nicht rufen, wir kommen und holen dich, wenn alles wieder sicher ist.«
Während einer der Stunden, die ich in dem Raum verbrachte, musste ich plötzlich ganz dringend. Aber da war nichts, das einem Topf ähnelte. Ich fand ein gelb-orangefarbenes Staubtuch. Das habe ich auf den Boden gelegt, und darauf habe ich dann gepinkelt. Seltsamerweise wurden sie nicht mal wütend, als sie mich wieder holten. Im Gegenteil, sie fanden es sogar gut, dass ich dieses Staubtuch genommen hatte.
Mit dem Mann – ich weiß nicht mehr, wie ich die Leute nannte – habe ich auch mal Brennnesseln für Suppe gepflückt. Er nahm mich an die Hand, wir trugen Handschuhe. Es fühlte sich sehr vertraut an.
In dieser Zeit bin ich auch zur Schule gegangen, die war streng christlich. Daran habe ich wenige Erinnerungen, ich weiß nicht mal mehr, ob ich meinen eigenen Namen behalten durfte. Ich fand es wohl komisch, dass alles weiterging: Kinder gingen zur Schule, Erwachsene gingen ins Kino oder zum Tanzen. Warum musste ich Angst haben, während die anderen einfach weiterlebten?
Später, gegen Kriegsende, musste ich wieder zurück nach Enschede. Wie ein Postpaket wurde ich zurückgeschickt.
Meine Untertauchadresse grenzte an einen Park, in dem sich auch ein Tennisplatz befand. Eines Tages sah ich in diesem Park, auf der anderen Seite des Zauns, ein Mädchen, das auch allein war. Ich ging zum Zaun, wir redeten ein wenig und spielten mit diesen weißen Beeren, die auseinanderknallen, wenn man hineinkneift.
Als ich meine Zwillingsschwestern nach dem Krieg wiedersah, erinnerte ich mich plötzlich an das Mädchen aus dem Park: Ohne es zu wissen, hatte ich dort mit meiner Schwester Mary gespielt. Sie war bei »Tante Bep« und »Onkel Bram« untergetaucht, jungen kinderlosen Leuten, die regelmäßig im Park Tennis spielten. Weil ich meine Schwestern vor dem Krieg immer nur zusammen gesehen hatte, erkannte ich Mary allein nicht.
Nach der Befreiung
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