Versteckt
aufrechterhalten. Obwohl sie fünfhundert Meilen von mir entfernt wohnt. Ihr Mann versteht es.
Eines Nachmittags Ende August hielt ich mein Versprechen und erzählte ihr, was dort geschehen war. Es war für uns beide hart, aber es war es auch wert. Danach saßen wir noch lange im Harmon’s, tranken Cola und schwiegen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass ich die Stadt verlassen und nach Boston ziehen würde. Nach dem, was geschehen war, konnte ich unmöglich in Dead River bleiben. Mein Dad hatte mir dort einen Job verschafft, und ich hoffte, mich im Wintersemester an einem kleinen College in Beacon Hill einschreiben zu können. Wie sich herausstellte, schaffte ich gerade so die Aufnahmeprüfung. Kim kehrte nach Chestnut Hill zurück. Sie kam nie wieder nach Dead River.
Ich fuhr ab und an nach Hause, um meine Eltern zu besuchen. Nur aus Pflichtgefühl. Wohl fühlte ich mich dort nicht.
Jedenfalls saßen wir lange bei Harmon’s. Hamburger wurden in die Mikrowelle geschoben, Limonade wurde ausgeschenkt, die Leute kamen und gingen. Ich dachte an Casey und an das letzte Mal, als wir zusammen waren. Wie sie mir ihre Liebe gestanden und wie sehr sie sich verändert hatte. Wie ihr und mir schließlich klar geworden war, dass diese vielen unnötigen Risiken keinen Nervenkitzel, sondern nur Leid und Tod brachten – einen inneren Tod. Dass unsere Liebe dies alles überwunden hatte und dass wir auf eine seltsame Art glücklich gewesen waren. Inmitten all dieser Angst und des Leids hatten wir unser Glück gefunden. In dieser Höhle erlebten wir das Schlimmste, das einem auf Erden zustoßen kann, und für einen kurzen Moment auch das Schönste.
Ich ging nach Boston, weil ich leben wollte. Ich war mit mir selbst im Reinen.
Das versuchte ich Kim zu erklären.
»Du hast eine zweite Chance«, sagte sie. »Ich auch. Ich auch.« Sie schüttelte den Kopf. »Steven und Casey – am Ende waren sie so tapfer .«
Schon komisch, wie sich alles entwickelt.
Im Dezember vor einem Jahr fuhr ich am Crouch-Haus vorbei. Rauch stieg aus dem Schornstein. Jemand wohnte dort. Ob sie Bescheid wussten? Ich fragte Rafferty.
»Klar wissen sie Bescheid. Alle wissen es. Der Typ, der da wohnt, ist nur der Hausmeister. Er bleibt zwei, höchstens drei Monate, solange die Gutachter und Sachverständigen dort rumschwirren. Weißt du, wem das Haus jetzt gehört? Einem Stromkonzern. Die Stadt hat es gekauft, so wie sie es gleich hätten tun sollen, als Ben und Mary noch drin gewohnt haben. Und der Konzern hat es wiederum der Stadt abgekauft. Angeblich wollen sie dort eine Deponie für das Atomkraftwerk in Wiscassett einrichten. Ist das nicht zum Brüllen? Klar, das sind natürlich nur Gerüchte. Sieht dem Stadtrat ähnlich – Industrie um jeden Preis. Hauptsache Arbeitsplätze. Und in zehn Jahren sterben uns die Fische weg.«
Er starrte konzentriert in sein Bier.
»Das Haus ist über hundert Jahre alt, hast du das gewusst?«
Im kommenden November werde ich fünfunddreißig.
Das College hat sich ausgezahlt.
Ich habe eine Festanstellung.
Ich wohne in Manhattan.
Ich denke an Casey.
Seither war ich nie wieder so verliebt. Nicht ein Mal. Aber damit habe ich auch nicht gerechnet. Ich denke oft an sie, und manchmal kommt es mir vor, als ob alles, was ich tue, nur ein schlechter Ersatz für sie ist.
Manchmal.
Weil ich die Frau, mit der ich zusammenlebe, sehr mag.
Sie plant mit siebenunddreißig einen Berufswechsel. Und ich schreibe das hier auf.
Keine große Sache – und doch ein kleines Risiko, das wir beide eingehen.
Wir hoffen, Versteckt hat Ihnen gefallen, und möchten Sie zu dieser kurzen biografischen Erzählung einladen, in der Jack Ketchum die Hintergründe seines Romans beleuchtet.
Erinnerung an ein gefährliches Leben
»Als Versteckt zum ersten Mal erschien, rief mich eine Frau an, von der ich seit langer Zeit nichts gehört hatte. ›In dem Buch geht es um mich, oder?‹, sagte sie. Da hatte sie vollkommen recht. Nichts, absolut gar nichts in diesem Buch gibt Außenstehenden auch nur den kleinsten Hinweis darauf, aber sie hatte trotzdem gemerkt, dass Versteckt eine Metapher für unsere Beziehung war.«
Jack Ketchum
1. Ich halte das Steuer in der Hand, aber ich kann nicht lenken.
Die erste große Liebe meines Lebens war auf Speed. Sie war süchtig nach Crystal Meth.
1967 ist schon lange her, daher erinnere ich mich auch nicht mehr genau, wie ich sie kennenlernte. Sie studierte am Emerson College in Boston – als sie
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