Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
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27. Mai 2010
»Ich bin ein sehr distanzierter Christ«
Über Religions- und Glaubensfragen
Lieber Herr Schmidt, haben Sie jemals mit dem Gedanken gespielt, aus der Kirche auszutreten?
Nein.
Aber ein besonders religiöser Mensch sind Sie doch nicht.
Stimmt, bin ich nicht. Ich bin ein sehr distanzierter Christ.
Warum kam ein Austritt dann nie für Sie infrage?
Warum hätte er infrage kommen sollen, muss ich gegenfragen.
Vielleicht aus Ärger über eine bestimmte Entwicklung, über bestimmte Personen, den Zustand der Kirchen.
Eine menschlich und politisch bedeutsame Entscheidung aus einem ärgerlichen Anlass zu treffen, das ist eigentlich nicht meine Art.
Können Sie es denn verstehen, dass viele Menschen aus der Kirche austreten, im Moment vor allem aus der katholischen?
Mich überrascht das nicht. In Westeuropa haben wir es seit der Französischen Revolution mit einer schrittweisen Säkularisierung zu tun. Ich glaube, dass sich dieser Prozess im 21. und auch im 22. Jahrhundert fortsetzen wird.
Sind die Austritte aus der katholischen Kirche nicht auch eine Folge der Missbrauchsfälle, die jetzt ruchbar geworden sind?
Die Missbrauchsfälle sind der Auslöser für die Austritte, nicht deren Ursache. Die Ursache ist eine zunehmende Distanzierung von der Kirche, die schon zuvor latent vorhanden war.
Wie können fragwürdige Charaktere wie der ehemalige Augsburger Bischof Walter Mixa heute noch so weit kommen?
Prinzipiell glaube ich, dass Religionsführer – egal, ob katholisch oder evangelisch, buddhistisch oder muslimisch – menschliche Wesen sind wie Sie und ich; und dass der Anteil von Leuten mit einem kleinen charakterlichen Defizit unter ihnen genauso groß ist wie unter uns gewöhnlichen Menschen ohne religiöses Amt. Es ist ein Glücksfall, wenn eine Religionsgemeinschaft oder eine Kirche jemanden zum Oberhaupt macht, der ohne solche Fehler ist oder der nur sehr geringfügige Fehler hat.
War Margot Käßmann für die evangelische Kirche so ein Glücksfall?
Das kann ich nicht beurteilen, ich habe sie nie erlebt. Ein Glücksfall auf katholischer Seite war sicherlich Johannes Paul II.
Hat es Ihnen imponiert, dass Frau Käßmann so schnell die Konsequenzen aus ihrem Fehlverhalten gezogen hat?
Sie hat konsequent gehandelt, und ihre Konsequenz verdient Anerkennung.
Würden Sie sagen, dass die Protestanten strenger sind als die Katholiken, wenn es darum geht, menschliche Schwächen zu ahnden?
Das kann ich auch nicht beurteilen. Wohl aber will es mir so vorkommen, dass die Schwächen bei den Männern sehr viel stärker zutage treten als bei den Frauen.
Ist Ihnen das Katholische eigentlich fremd geblieben, trotz Ihrer Bewunderung für Johannes Paul II.?
Nein, nicht fremd, ich habe es lediglich als anders empfunden.
Schreckt Sie eine üppige barocke Kirche ab?
Ich bin nicht sonderlich gut informiert über den Baustil und die Kunst des Barocks, obwohl ich ein Anhänger von Johann Sebastian Bach bin. Aber barocke Architektur und Malerei reißen mich nicht vom Stuhl.
Da haben Sie etwas mit Goethe gemeinsam. Er hat über die vermeintliche Verschandelung italienischer Städte durch Architekten des Barocks geschimpft.
So weit würde ich nicht gehen. Ich finde barocke italienische Städte wunderbar, aber mir sind die etwas kargeren, kunstloseren, mit Backsteinen aufgemauerten gotischen Kirchen Nordeuropas lieber. Außerdem habe ich sie vor der Haustür.
Hat Religion heute noch eine politische Bedeutung?
Erster Teil der Antwort: Ja, und diese Bedeutung wird sie auch behalten, allerdings weniger in den säkularisierten Staaten Europas. Aber wir Europäer werden bald begreifen, wie stark zum Beispiel der philosophische Lehrer Konfuzius, der vor zweieinhalbtausend Jahren gelebt hat, das Handeln der kommunistischen Führer und der breiten Massen in China bis heute beeinflusst. Zweiter Teil der Antwort: Der politische Einfluss der Religion wird sich von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Nation zu Nation stark unterscheiden. Er wird in China anders ausfallen als nebenan in Indien, in Indien anders als in Japan, in Japan wiederum anders als in Indonesien.
Ist die Bundesrepublik heute ein säkularer Staat?
Offiziell ja, tatsächlich etwas weniger.
An welche Tatsachen denken Sie?
Zum Beispiel daran, dass der Staat die Kirchensteuer eintreibt. Oder daran, dass für Personen, die an der Spitze des Staates gestanden oder in der Politik eine gute Rolle gespielt haben, Totenfeiern in einer Kirche
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