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Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)

Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)

Titel: Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt , Giovanni di Lorenzo
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abgehalten werden. Da wirken alte Traditionen nach, obwohl der Verstorbene selbst womöglich weder in die Kirche gegangen ist noch jemals gebetet hat. Aber für ihn wird dann gebetet.
    Gott wird auch in der Präambel des Grundgesetzes erwähnt.
    Nicht nur da! Auch der im Grundgesetz festgeschriebene Amtseid enthält die Formel »So wahr mir Gott helfe«. Allerdings sogleich dahinter steht dann, der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. Aber derjenige, der als Minister vereidigt wird und dabei die Worte hinzufügt »So wahr mir Gott helfe«, kann natürlich auch den muslimischen, den jüdischen oder einen ganz anderen Gott meinen. Für mich war das immer selbstverständlich; vor ein paar Wochen ist es dann auch tatsächlich geschehen – in Hannover, bei der Vereidigung der neuen Sozialministerin Aygül Özkan. Das hatten sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes zwar nicht so vorgestellt. Aber sie haben den Amtseid zum Glück so formuliert, dass man die Formel heute so verstehen darf.
    Welche Bedeutung hatte es, dass in der Gründungsphase der Bundesrepublik gleich zwei Parteien das C in ihrem Namen aufnahmen und sich als christlich ausgaben?
    Ich habe das als einen überaus erfolgreichen taktischen Kunstgriff von damals führenden Politikern empfunden. Auch in der Weimarer Republik hatte es ja schon christliche Parteien gegeben, eine kleine evangelische und eine größere katholische, das Zentrum. Beide waren zwar moralisch und politisch wichtig, aber nach der Anzahl ihrer Abgeordneten nicht sonderlich gewichtig – abgesehen von den letzten drei Jahren, als Heinrich Brüning, ein Zentrumsmann, Reichskanzler war. Angesichts dieser Vorgeschichte war die Begründung der Christlich-Demokratischen Union ein beneidenswert erfolgreicher Schritt.
    Erfolgreich auch deshalb, weil die SPD gleichzeitig als gottlos abgestempelt wurde.
    Ja, das war eine ziemlich gottlose Verdächtigung, die leider eine Zeit lang gewirkt hat. Heutzutage würde sie nicht mehr wirken.
    Dürfen in den Schulen eines säkularen oder fast säkularen Staates Kruzifixe hängen?
    Ich muss gestehen, dass ich darüber nicht nachgedacht, sondern diesen ewigen Kruzifixstreit nur zur Kenntnis genommen habe. Pfingsten war ich am Brahmsee und bin an der Schule des Dorfes Langwedel vorbeigegangen. Da steht draußen auf einem weißen Schild in schwarzen altdeutschen Buchstaben geschrieben: »Schule zu Langwedel«. Das steht da schon seit Ende des 19. Jahrhunderts und wird immer wieder erneuert, man hält also an dieser alten Schrift fest. Das Festhalten an alten Traditionen ist etwas Heilsames. Wenn es in einem Dorf Tradition ist, dass ein Kreuz im Klassenzimmer hängt, würde ich es um Gottes willen dort lassen, solange niemand Anstoß daran nimmt.
    Sollen dann auch Lehrerinnen muslimischen Glaubens im Unterricht Kopftücher tragen dürfen?
    Dieser Kopftuchstreit ist Teil eines Integrationsprozesses, der bisher in keinem europäischen Staat abgeschlossen ist, der aber auf die Dauer entweder erfolgreich sein wird oder aber zum Zerfall der betroffenen Gesellschaft führen kann. Zuwanderer aus einer anderen Zivilisation, mit einer anderen Religion und anderen Traditionen kommen nach Europa, und überall treffen sie auf Unverständnis, zum Teil auf Ablehnung. Manche Politiker versuchen, die Integration der Eingewanderten zu fördern. Einige Zuwanderer wollen aber gar nicht integriert werden, und umgekehrt sind manche der alteingesessenen Bürger an der Einbettung der Einwanderer gar nicht interessiert. Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum eine Bedeutung hatte. Jetzt aber hat es erhebliche Bedeutung.
    Sie meinen im Ernst, den Europäern fehle es an religiöser Toleranz?
    Die Europäer haben lange gebraucht, bis sie religiöse Toleranz gelernt haben. Sie waren noch vor 400 Jahren bereit, sich für die katholische oder die evangelische Wahrheit gegenseitig den Schädel einzuschlagen. Der Dreißigjährige Krieg ist das schlimmste Beispiel. Und wer von der Meinung der Kirche abwich, der wurde als Ketzer verbrannt. In Deutschland haben wir religiöse Toleranz erst als Konsequenz aus der Nazidiktatur gelernt. Die Nazis waren gegen die katholische und gegen die evangelische Kirche. Das hat die Feindschaft zwischen diesen beiden Kirchen in den Hintergrund treten lassen: Sie haben sich gemeinsam gegen die Vergewaltigung gewehrt.
    Müssten demokratische Staaten der Toleranz

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