Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
nicht in manchen Fällen auch Grenzen ziehen?
Es kommt sehr auf die Situation in der jeweiligen Gesellschaft an. Deshalb scheue ich auch davor zurück, mich in den Kopftuchstreit oder den Burkastreit in Belgien und Frankreich einzumischen. Es gibt in jeder Gesellschaft das Phänomen, dass Menschen ihre Zugehörigkeit zu einem Verein, einer Partei oder einer Religion im Alltag zeigen wollen – sei es mit einem Abzeichen im Knopfloch, mit einer Fahne im Garten oder wie auch immer. Am Brahmsee konnten Sie Pfingsten sehen, dass einige eine schleswig-holsteinische Fahne vor ihrem Haus aufgezogen hatten, einige Hamburger hatten eine Hamburg-Fahne gehisst. Die große Mehrzahl hatte keine Fahne im Garten, aber es gab eben einige, die eine besondere Bindung an ihre Heimat zeigen wollten. In Amerika ist das viel stärker ausgeprägt als bei uns.
Gegen die Burka muss man schon deswegen sein, weil sie Symbol und Werkzeug für die Unterdrückung der Frau ist.
Man kann das sicherlich so interpretieren. Und sofern es sich um meinen Staat handelt, um Deutschland, würde auch ich verlangen, dass die Unterdrückung von Frauen – zum Beispiel auch die Zwangsverheiratung – verboten wird. Aber ich würde sehr zurückhaltend sein, wenn es darum geht, auf der ganzen Welt die Unterdrückung der Frauen zu bekämpfen, möglicherweise sogar mit Panzern und Kanonen, wie in Afghanistan. Besserwisserei gegenüber den Nachbarn oder gegenüber den Chinesen oder den Arabern gefällt mir nicht; da wäre ich sehr zurückhaltend.
Ist Religion für Sie im Alter wichtiger geworden?
Nein, unwichtiger.
Wie erklären Sie sich das?
Mit der zunehmenden Lebenserfahrung. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die mit meiner Religion nichts zu tun haben: Ich hatte chinesische Freunde, die an ihren Kommunismus glaubten; ich war mit einem Muslim aus Ägypten befreundet. Ich habe viele tüchtige und verantwortungsbewusste Menschen kennengelernt, die ganz andere religiöse Vorstellungen hatten als ich. So habe ich gelernt, dass Toleranz und Respekt eine dringende Notwendigkeit sind, wenn man den Frieden erhalten will. Ich glaube, dass die Menschheit sich im 21. Jahrhundert an zwei Leitworten orientieren muss: Respekt und Kooperation.
Beneiden Sie manchmal ältere Menschen, die Zuversicht im Glauben finden?
Nein, ich beneide niemanden.
Auch nicht jene, die den Tod nicht fürchten, weil sie an einen Übertritt in ein anderes Leben glauben?
Wenn jemand daran glaubt, ist das für mich in Ordnung. Es bringt mich aber nicht dazu, es ihm gleichzutun.
Beten Sie?
Nein. Ich habe vielleicht äußerlich mitgebetet, aber innerlich nicht. Es gibt allerdings zwei Gebete, die mir zu Herzen gehen. Das eine ist das Vaterunser, von Kindheit an, und das andere ist ein Gebet, das der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr formuliert hat, das Gelassenheitsgebet, Sie kennen es, ich habe es Ihnen schon einmal erzählt …
Allerdings!
»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, / den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, / und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Das würde ich aus vollem Herzen mitbeten.
Aber wenn Sie so wenig glauben, warum sind Sie dann noch in der Kirche?
Weil Traditionen nützlich sind. Die Kirchen gehören zum Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält.
10. Juni 2010
»Wie konnte die Regierung derart aus dem Lot geraten?«
Über Selbstzweifel und Rücktritte
Innerhalb weniger Tage haben zwei deutsche Spitzenpolitiker ihren Rücktritt erklärt: Hessens Ministerpräsident Roland Koch und Bundespräsident Horst Köhler. Am 30. Juni wählt die Bundesversammlung Christian Wulff zu seinem Nachfolger.
Lieber Herr Schmidt, hätten Sie es jemals für möglich gehalten, dass ein Ministerpräsident von einem Tag auf den anderen mit der Begründung zurücktritt, es gebe in seinem Leben Wichtigeres als Politik? Oder dass ein Bundespräsident hinschmeißt, nur ein Jahr nach seiner Wiederwahl?
Beide Schritte sind wirklich ungewöhnlich.
Was ist daran besonders?
Dass ein Ministerpräsident, sei es aus privaten Gründen oder weil er genug hat von der Politik, von sich aus den Entschluss fasst auszuscheiden, ist in meinen Augen in Ordnung. Allerdings sollte man das – wie Koch – mindestens Wochen, wenn nicht gar Monate vorher ankündigen, damit Mitarbeiter und Bürger, aber auch die Opposition sich darauf einstellen können.
Gilt das auch für Horst Köhler?
Bundespräsident Köhlers völlig
Weitere Kostenlose Bücher