Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
nahmen im Wahlkampf aufeinander große Rücksicht. Als sie die Wahl dann hinter sich hatten und gemeinsam über eine komfortable Mehrheit im Bundestag verfügten, schlossen sie einen über hundert Seiten langen Koalitionsvertrag, der völlig realitätsfern war: Er versprach Steuersenkungen und andere Wohltaten, obwohl ganz klar war, dass man die Staatsverschuldung und die Staatsausgaben einschränken und die Einnahmen wenn möglich aufrechterhalten musste. Es war ein ökonomisch instinktloser Koalitionsvertrag, übrigens so wirklichkeitsfremd, dass sich heute weder die CDU noch die FDP darauf berufen möchten. Da liegt der Fehler, und das gilt in gleicher Weise für Frau Merkel wie für Herrn Westerwelle.
Würden Sie sagen, dass das politische Personal heute, im Vergleich etwa zu Ihrer aktiven Zeit, eher mittelmäßig ist?
Da will ich mir kein Urteil anmaßen. Zu dem Entschluss, einen Teil des Lebens der Politik zu widmen, gehört ein starkes moralisches Motiv. Für diejenigen, die in der Nachkriegszeit in die Politik gingen, war die Motivlage eindeutig: Sie wollten ihr Land und ihre Gesellschaft wieder aufbauen, sie wollten eine Zukunft ohne Krieg und Barbarei, Karrierestreben spielte kaum eine Rolle. Inzwischen haben Jüngere die politische Führung übernommen, denen das moralische Motiv der Kriegsgeneration womöglich fehlt. Das gilt auch für die Managerklasse: Viele Manager fühlen sich heute viel weniger für die eigene Gesellschaft verantwortlich als die Vorstandsvorsitzenden vor einem halben Jahrhundert. Sie sind heute viel mehr am Profit und am eigenen Einkommen orientiert.
Auch die Welt hat sich stark verändert.
Ohne Frage. Seit der ersten Ölkrise im Jahr 1973 geht es nicht mehr darum, am laufenden Band Zuwächse zu verteilen; die Politik muss mit schweren, zugleich weltweiten ökonomischen Krisen fertig werden. Und seit dem Ende des Kalten Krieges schreitet die Globalisierung rasch voran. Hinzu kommt, dass die europäischen Gesellschaften alle überaltern, während in vielen anderen Ländern eine Bevölkerungsexplosion stattfindet. Kurz gesagt: Die Welt ist in einem schnellen Veränderungsprozess begriffen. Das demokratische Publikum sieht das nicht so gern, und das finde ich ein bisschen unheimlich.
Gibt es Situationen, in denen ein Politiker so unter Druck gerät oder so erschöpft ist, dass er an Rücktritt denkt?
Kann ich mir vorstellen. Bei mir ist das aber nicht vorgekommen.
Aber Sie haben als Kanzler auch einige Male an Rücktritt gedacht: zum Beispiel, als die Befreiung der von Terroristen entführten Lufthansa-Maschine »Landshut« bevorstand. Und als Sie merkten, dass Ihnen 1982 die FDP von der Fahne ging.
Ja, aber das hatte mit Erschöpfung nichts zu tun.
Darf sich ein Spitzenpolitiker eigentlich Selbstzweifel erlauben?
Jeder Inhaber eines politischen Amtes, nicht nur der Bundespräsident, sollte sich von Zeit zu Zeit ernsthaft die Frage stellen: Ist das, was du letzte Woche an Entscheidungen zustande gebracht hast, ganz richtig gewesen, oder sind Zweifel geblieben? Das steht zwar nicht in der Verfassung, es ist aber eine menschliche und moralische Notwendigkeit.
Hat ein Politiker Zeit für solche Selbstreflexionen?
Zeit dafür hat er jede Nacht vor dem Einschlafen und jeden Morgen beim Frühstück. Es ist keine Frage der Zeit, sondern eine Frage der Ehrlichkeit mit sich selber. Wer das nicht kann und nicht will, ist eigentlich, auch wenn er erfolgreich sein sollte, für ein politisches Amt nicht sonderlich geeignet.
Aber honorieren die Wähler das auch? Sie scheinen manchmal unentschlossen zu sein, ob sie von Politikern Seriosität oder Unterhaltung erwarten.
Am liebsten möchten sie beides zugleich! In einer Demokratie wird der gewählt, der sich dem Publikum angenehm macht. Das ist einer der schweren Geburtsfehler jeder Demokratie. Wenn es dem Publikum nicht gefällt, was der Politiker sagt, wird er nicht gewählt. Und zwar auch dann nicht, wenn der Politiker gute Argumente hat. Die Demokratie hat so manchen Fehler.
Wie sind Sie als Politiker mit Rücktritten umgegangen?
Ich habe mehrere Rücktritte bewirkt. Einen Rücktritt hätte ich gern verhindert, nämlich den von Verteidigungsminister Georg Leber. Er fühlte sich verpflichtet zurückzutreten, nachdem in seinem Ministerium ein sowjetischer Spion entdeckt worden war. In meinen Augen war das ein unzureichender Grund, denn in jeder Regierung gibt es Spione, und dafür kann der Minister rein gar nichts. Aber es gab das
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