Verstohlene Kuesse
die Hintertreppe an der Küche vorbei. Als sie die Tür des Wintergartens öffnete, wurde ihr klar, dass ihre Kerze nicht länger erforderlich war.
Das Mondlicht fiel mit einer Helligkeit durch die gläsernen Wände, die die Pflanzen wie aus Silber gegossen erscheinen ließ. Palmen hoben sich schimmernd vor dem Dunkel hinter den Fenstern ab. Breite Blätter warfen fremde Schatten, von den Blumenbänken ragten dichte, dunkle Blüten auf, und die Luft war vom Geruch von Erde und von exotischen Düften erfüllt.
»Edison?«
»Hier.« Er trat aus dem Schatten zweier dicht belaubter Bäume und kam den mondbeschienenen schmalen Pfad herauf. »Seien Sie bitte leise. Es ist besser, wenn wir niemanden aufwecken.«
»Nein, natürlich nicht.« Sie blies die Kerze aus und stellte sie auf einen Tisch. »Was ist passiert? Haben Sie den Vanzakämpfer ausfindig gemacht?«
Edison blieb vor ihr stehen und warf seinen Mantel neben die Kerze auf den Tisch. »Ich habe ihn gefunden«, sagte er.
Der neutrale Klang seiner Stimme beunruhigte sie stärker als alles andere.
»Was ist los?« Sie schluckte schwer. »Haben Sie ... waren Sie ... mussten Sie ihn umbringen?«
»Nein.«
»Dem Himmel sei Dank. Was haben Sie mit ihm gemacht?«
Edison lehnte sich gegen eine der Säulen, die das gläserne Dach hielten. Er kreuzte die Arme vor der Brust und blickte an ihr vorbei durch eins der Fenster in die Nacht hinaus. »Ich habe ihn an Bord eines Schiffes nach Vanzagara geschickt.«
»Ich verstehe.« Sie zögerte. »War er so jung, wie sie vermutet hatten?«
»Ja.«
»Dann ist das also das Problem. Er hat Sie an Sie erinnert, als Sie so jung waren wie er.«
»Manchmal haben Sie einfach eine allzu gute Beobachtungsgabe, Emma. Was bei einer Angestellten eine eher störende Angewohnheit ist.«
»Es war einfach eine logische Schlussfolgerung«, sagte sie entschuldigend.
»Sie haben Recht.« Edison atmete hörbar aus. »Er hat mich daran erinnert, dass ich nicht der einzige junge Mann gewesen bin, der je allein, ohne Familie, dagestanden hat. Außerdem hat er mich daran erinnert, wie verzweifelt junge Männer nach Möglichkeiten suchen, sich zu beweisen, dass sie ganze Männer sind. Wie diejenigen von uns, die unehelich auf die Welt gekommen sind, auf persönliche Ehre geradezu versessen sind. Ja, er hat mich an mich erinnert, als ich in dem Alter war.«
Sie berührte ihn am Arm. »Und weshalb sind Sie jetzt so unglücklich? Glauben Sie, Sie haben nicht das Richtige getan?«
»Indem ich den jungen John Stoner nach Vanzagara geschickt habe? Nein. Falls es noch Hoffnung für ihn gibt, dann liegt sie dort. So sehr mir auch der metaphysische Unsinn verhasst ist, den die Mitglieder der Vanzagarianischen Gesellschaft predigen, muss ich doch zugeben, dass es meine Erfahrung auf der Insel war, die mir das gegeben hat, was ich brauchte, um meinen Platz in der Welt zu finden.«
»Hat John Stoner Ihnen den Namen des falschen Meisters genannt?«
»Nein. Aber wenn ich ihn sehe, werde ich wissen, dass er es ist. Das ist nur noch eine Frage der Zeit.«
Dieser Aspekt der Geschichte schien ihm plötzlich überraschend gleichgültig zu sein. Sie wusste, momentan galten seine Gedanken der Vergangenheit. Die Begegnung mit John Stoner hatte Erinnerungen in ihm geweckt. Sie wünschte sich, sie könnte ihn trösten, aber sie hatte keine Vorstellung, wie sie den Schutzwall überwinden sollte, der vor so langer Zeit von ihm um sein Innerstes errichtet worden war.
»Es tut mir Leid«, wisperte sie.
Schweigend blickte er sie an.
»Es tut mir so Leid, dass Sie heute Abend in einen Spiegel gesehen und sich selbst als jungen Mann erblickt haben.«
Immer noch schwieg er, ehe er schließlich trocken erwiderte: »Ich halte mich immer noch nicht für furchtbar alt.«
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Oh, Edison.«
Spontan schlang sie ihre Arme um seine Hüfte, presste ihr Gesicht an seine Brust, und unerwartet brüsk zog er sie fest an seinen harten Leib.
»Emma.« Sein Mund senkte sich auf ihre Lippen, als stünde der Untergang der Welt unmittelbar bevor.
Er suchte keinen Trost, erkannte sie. Er suchte etwas anderes, Primitiveres, wesentlich weniger Zivilisiertes, merkte sie. Nun war die Reihe an ihr, ihn zögernd anzusehen. Dies war das zweite Mal, dass sie am Rand dieser Klippen stand. Und bereits beim ersten Mal hatte sie schmerzlich gelernt, wie gefährlich dieser Abgrund war.
Aber Edisons Hunger entzündete in ihrem Inneren eine
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