Verstohlene Kuesse
arrogant, um wegen zwei Frauen in großer Sorge zu sein.« Edison sah Harry mit einem grimmigen Lächeln an. »Der Idiot hat sicher nicht genug Verstand, um sich darüber klar zu sein, was es bedeutet, wenn diese zwei Frauen Emma und meine Großmutter sind.«
»Dann sin' die beiden also schwierig, he?«
»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig die beiden sind. Aber das ist einer der Gründe, weshalb wir zu ihnen müssen, während Ware mit der erhofften Übergabe des Rezepts beschäftigt ist. Wenn wir zu lange warten, nehmen Emma und Victoria die Dinge sicher selber in die Hand.«
»Ich bin jederzeit bereit. Je eher die Sache losgeht, umso besser, finde ich.«
Edison zog seine Taschenuhr hervor. »Dann machen wir uns am besten auf den Weg.«
»Dem Himmel sei Dank.« Harry ließ seinen Bierkrug auf den Tisch krachen und sprang erleichtert auf. »Ich will Ihnen ja nich' zu nahe treten, aber viel länger hätte ich es mit Ihnen zusammen hier drinnen nich' ausgehalten, Sir. Sie machen einen ganz kribbelig.«
Edison klappte seine Taschenuhr entschieden zu, wandte sich zum Gehen und zog ein letztes Mal die Pistolen aus den Taschen seines Mantels. Beide waren geladen, und das Pulver war so trocken wie gewünscht.
29. Kapitel
Als Emma spürte, wie die letzten Fasern ihrer Fessel endlich nachgaben, jubelten sie begeistert: »Sie haben es geschafft, Madam. Sie haben mich befreit.«
»Dem Himmel sei Dank. Ich dachte schon, ich kriege diese Dinger niemals durch.«
Emma streckte vorsichtig die Arme aus, ehe sie sich kräftig die Handgelenke rieb. Von der langen Reglosigkeit fühlte sie sich steif, und ihre Haut war von den Seilen abgeschürft, aber das war das kleinste Problem. Eilig drehte sie sich um und nahm Victoria das Messer ab.
»Gleich sind Sie Ihre Fessel los.«
»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel«, kam die trockene Erwiderung. »Aber haben Sie auch schon darüber nachgedacht, wie es weitergehen soll? Der einzige Weg aus diesem Zimmer führt über die Treppe, und dort sitzen sicher Ware und seine Männer herum.«
»Es gibt noch einen anderen Weg.« Emma säbelte mit dem kleinen Messer an dem dicken Seil. »Durch das Fenster.«
»Sie haben die Absicht, aus dem Fenster zu klettern?«
»Da drüben liegen jede Menge Taue herum. Die könnten wir benutzen, um uns an ihnen in die Freiheit hinunterzulassen«, erklärte Emma ihr.
»Ich bin nicht sicher, ob ich das schaffen kann. Aber selbst wenn uns beiden die Flucht gelänge, fänden wir uns anschließend in einer der gefährlichsten Gegenden der Stadt wieder. Zwei Frauen, die mitten in der Nacht alleine durch den Hafen wandern, könnte dort alles mögliche geschehen.«
»Haben Sie einen anderen Vorschlag?«
»Nein«, antwortete Victoria. »Aber eins ist sicher -«
»Was?«
»Mein Enkel ist hier im Hafen sehr bekannt«, sagte Victoria in ruhigem Ton. »Er hat oft geschäftlich hier zu tun.«
»Ja, natürlich.« Emmas Stimmung stieg. »Falls uns jemand zu nahe tritt, berufen wir uns einfach auf ihn. Und auf seinen Freund, den Einohrigen Harry.«
Victoria stieß einen Seufzer aus. »Was denkt sich Edison nur dabei, mit Männern Geschäfte zu machen, die Namen wie Einohriger Harry tragen? Hätte ich den Jungen doch nur bereits viel früher unter meinen Fittichen gehabt. Sagen Sie mir die Wahrheit, Emma. Glauben Sie, ich hätte ihn ebenso falsch erzogen wie meinen eigenen Sohn?«
Der Schmerz, der sich hinter dieser einfachen Frage verbarg, traf Emma bis ins Mark, so dass sie ihre Worte ebenso sorgfältig wählte wie eine zarte Blume aus einem Frühlingsbeet.
»Meine Großmutter war eine sehr weise Frau. Sie hat einmal zu mir gesagt, dass Eltern weder der gesamte Tadel noch das gesamte Lob für die Entwicklung ihrer Kinder gebührt. Am Ende, hat sie gesagt, ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich.«
»Edison hat einen sehr guten Menschen aus sich gemacht, nicht wahr?«
»Ja«, pflichtete Emma ihr von ganzem Herzen bei. »Das hat er allerdings.«
Gerade, als Emma mit dem Durchtrennen von Victorias Fessel fertig war, wurden auf der Treppe polternde Schritte laut.
»Es kommt jemand«, flüsterte Victoria. »Sicher überprüft er unsere Fesseln und sieht, dass wir uns befreit haben.«
Emma wirbelte herum und griff nach dem schweren Hocker, auf dem sie bis eben gesessen hatte. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Madam. Wenn er die Tür öffnet, lenken Sie ihn bitte ab.«
»Was haben Sie vor?«
»Keine Sorge. Mit diesen Dingen
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